Full text: Studien zum Deutschen Staatsrechte. Erster Band. Die vertragsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung. (1)

90 Zweites Kapitel. 
abändern, sondern das Gesetz an ihre „Stelle treten“ lassen. 
Das heisst, er muss beweisen, dass das Gesetz nichtig sei. 
Wer das Reich ausschliesslich als ein Vertragsverhältniss 
der verbündeten Regierungen auffasst, der muss des Ferneren 
beweisen, dass ein völkerrechtliches Vertragsverhältniss d. h. 
ein Verhältniss, welches seinem Begriffe nach die Nebenord- 
nung gleichberechtigter Staaten voraussetzt, seine Regelung 
empfangen kann durch ein Gesetz d.h. durch eine Norm, deren 
Rechtsverbindlichkeit ihrem Begriffe nach durch ein Verhält- 
niss der Ueber- und Unterordnung bedingt ist 16, 
Was wir im Allgemeinen aus der Natur des Bundesstaates 
ableiteten, dass seine Verfassung nicht in Vertragsbestim- 
mungen und die durch ihn begründeten Rechtsverhältnisse 
nicht in vertragsmässige Rechtsverhältuisse der Einzelstaaten 
zu einander aufgelöst werden könnten, das hat seine konkrete 
Bestätigung am deutschen Reiche durch die Entstehungsge- 
schichte seiner Verfassung gefunden. Diese Entstehungsge- 
  
—. 
16 Seydel, Commentar pag. 14 sagt: ‚‚Eine neue gleichmässige Re- 
daktion der verschiedenen Verfassungsurkunden war... im norddeutschen Bunde 
nicht nöthig. Indem man aber dieselbe für das Reich vornahm, hat man die 
Reichsverfassung zu nichts Anderem machen wollen und können, als die nord- 
deutsche Bundesverfassung war, zu nichts Anderem als zum gleichmässigen 
Landesverfassungsgesetze aller Bundesstaaten. Wir betonen das, weil, 
wenn Rönne — — sagt: ‚‚Die Verfassung ist an die Stelle der Verträge 
getreten; die bis dahin blos völkerrechtliche Natur des Bundes hat sich zu 
einer staatsrechtlichen umgestaltet‘‘, man etwa dieses Gesetz zum Zeug- 
niss für seine Behauptung anführen könnte. Nichts wäre falscher. Das 
Vertragsverhältniss besteht nach wie vor fort und ist die Grundlage, auf 
welcher die Reichsverfassung als Gesetz ruht. .ls ist der Vertrag, welcher 
dem Bunde die Berechtigung ertheilte, das Gesetz vom 16. April 1871 zu er- 
lassen. Dem wäre auch nicht anders, wenn die Reichsverfassung wesentliche 
Abänderungen vom frühern Rechte enthalten würde. Denn es ist eben Inhalt 
des Vertrages, dass derselbe in der durch ihn selbst, durch die Verfassung 
vorgezeichnete Form soll geändert werden können.‘‘ Zugleich sagt Derselbe 
a. a. 0. pag. 37 ganz richtig: ,‚Das Landesrecht tritt (durch Erlass eines 
Reichsgesetzes) ausser Kraft materiell und formell d. h. nicht blos soweit es 
deın Reichsgesetze zuwider läuft, sondern auch soweit es mit ihm überein- 
stimmt. ‘‘
	        
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