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Sofern sich diese Auffassung gegen den wunderlichen Irr-
thum kehrt, als ob der Staat jemals zu einer reinen Rechts-
erscheinung verflüchtigt werden könnte, ist sie in ihrem vollen
Rechte. Gewiss — der Staat ist Faktizität, ıst Macht, ist
wirksames, allseitiges und überwältigendes Wollen und Han-
deln; sein Dasein, seine Wirksamkeit und seine Aufgaben be-
ruhn auf einer historischen Entwicklung, an welcher eine Fülle
der verschiedenartigsten Kräfte in physischen und geistigen
Nöthigungen, in sittlichen und religiösen Anschauungen, in
wirthschaftlichen und technischen Bedürfnissen aller Art, in
Planmässigkeit und in Zufall mitgewirkt haben. Wie überall,
so ist auch hier, dem Staate, seiner Entstehung und Fortbil-
dung gegenüber, das Recht immer nur eine mitwirkende,
durchaus spezifische und einseitige Bestimmung der im
menschlichen Leben und hier im Staatsleben sich bethätigen-
den Willensverhältnisse.
Aber weit darüber hinaus liegt es, wenn das Recht in
irgend welchem Sinne aufgefasst wird, als ein dem Staate nur
zufällig und äusserlich hinzutretendes Element, das er sich
beliebig setzen und von dem er beliebig absehn kann, als
eine Erscheinung, welche erst durch seine freie Willenssetzung
erzeugt ist und welche darum historisch oder begrifflich nur
die Folge des Staates als der ihr vorhergehenden Ursache ist.
Ich halte dies, um theologisch zu reden, für einen grund-
stürzenden Irrthum. Er ist einer jener Formeln der Meta-
physik entsprungen, die so viel Unheil wie in andern, so auch
in der Rechts- und Staatswissenschaft angerichtet haben und
noch heute anrichten, der Formel nämlich: „Der Staat ist der
Mensch im Grossen“.
Die Formel verdeckt den fundamentalen Unterschied, der
zwischen dem Menschen, als Individuum, und dem Staate ob-
waltet.
Allerdings das Individuum bietet eine Seite der Be-
trachtung dar, in welchem dasselbe gesellschaftslos ist und ge-
rade darum schlechthin ausserhalb des Rechtes steht. Nicht
etwa in dem Sinne, als ob das Individuum von der Gesell-