Full text: Studien zum Deutschen Staatsrechte. Zweiter Band. (2)

119] 8 12. Recht und Staat. 215 
Sofern sich diese Auffassung gegen den wunderlichen Irr- 
thum kehrt, als ob der Staat jemals zu einer reinen Rechts- 
erscheinung verflüchtigt werden könnte, ist sie in ihrem vollen 
Rechte. Gewiss — der Staat ist Faktizität, ıst Macht, ist 
wirksames, allseitiges und überwältigendes Wollen und Han- 
deln; sein Dasein, seine Wirksamkeit und seine Aufgaben be- 
ruhn auf einer historischen Entwicklung, an welcher eine Fülle 
der verschiedenartigsten Kräfte in physischen und geistigen 
Nöthigungen, in sittlichen und religiösen Anschauungen, in 
wirthschaftlichen und technischen Bedürfnissen aller Art, in 
Planmässigkeit und in Zufall mitgewirkt haben. Wie überall, 
so ist auch hier, dem Staate, seiner Entstehung und Fortbil- 
dung gegenüber, das Recht immer nur eine mitwirkende, 
durchaus spezifische und einseitige Bestimmung der im 
menschlichen Leben und hier im Staatsleben sich bethätigen- 
den Willensverhältnisse. 
Aber weit darüber hinaus liegt es, wenn das Recht in 
irgend welchem Sinne aufgefasst wird, als ein dem Staate nur 
zufällig und äusserlich hinzutretendes Element, das er sich 
beliebig setzen und von dem er beliebig absehn kann, als 
eine Erscheinung, welche erst durch seine freie Willenssetzung 
erzeugt ist und welche darum historisch oder begrifflich nur 
die Folge des Staates als der ihr vorhergehenden Ursache ist. 
Ich halte dies, um theologisch zu reden, für einen grund- 
stürzenden Irrthum. Er ist einer jener Formeln der Meta- 
physik entsprungen, die so viel Unheil wie in andern, so auch 
in der Rechts- und Staatswissenschaft angerichtet haben und 
noch heute anrichten, der Formel nämlich: „Der Staat ist der 
Mensch im Grossen“. 
Die Formel verdeckt den fundamentalen Unterschied, der 
zwischen dem Menschen, als Individuum, und dem Staate ob- 
waltet. 
Allerdings das Individuum bietet eine Seite der Be- 
trachtung dar, in welchem dasselbe gesellschaftslos ist und ge- 
rade darum schlechthin ausserhalb des Rechtes steht. Nicht 
etwa in dem Sinne, als ob das Individuum von der Gesell-
	        
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