26 Die Stellung des Reichskanzlers im Bundesrathe.
Damit ist in der Fassung eine gewisse Inkongruenz zwi-
schen den Verfassungsartikeln 6 und 7 einerseits und a. 15 an-
dererseits und in der Sache eine Verschiebung in der ursprüng-
lichen Anlage des Bundesrathes eingetreten. Denn mit dem
Reichskanzler als Präsidenten sıtzt Jemand im Bundesrath,
der nicht von einem Einzelstaate ernannt und als solcher
nicht Bevollmächtigter eines Einzelstaates ist.
Gerade an den letzten Punkt hat sich der Zweifel ge-
knüpft, der nach dem Verfassungsentwurf gar nicht erhoben
werden konnte, ob der Reichskanzler, der es als solcher nicht
ist, doch zugleich Bundesrathsbevollmächtigter eines einzel-
nen Staates und zwar Preussens sein müsse. Bekanntlich hat
dies der Reichskanzler geleugnet! und auch in der Literatur
ist diese Ansicht vertreten.?
Für das Gegentheil, für die Nothwendigkeit, dass der
Reichskanzler zugleich Bundesrathsbevollmächtigter sei, hat
man sich auf a. 15 d. V. und insbesondere auf dessen zweiten
Absatz berufen, wonach der Reichskanzler sich „durch jedes
andere Mitglied des Bundesrathes“ vertreten lassen kann; er
selbst ist also als ein Mitglied vorausgesetzt, Mitglieder aber
können nach a. 6 nur Vertreter der Einzelstaaten sein. Allein
vollkommen entscheidend ist dies nicht. Denn a. 15 enthält
auf jeden Fall zusätzliche Bestimmungen zu den Vorschriften
der Artikel 6 und 7 über die Organisation des Bundesrathes
und es wäre nicht schlechterdings ausgeschlossen, dass der
a. 15 den Reichskanzler nur insofern als ein Mitglied des
Bundesrathes neben anderen erscheinen lässt, als er den Vor-
1 Sten. Ber. d. Reichst. 13. März 1877 pag. 127: „Der Herr Vor-
redner meinte, es sei unter anderem nicht möglich, dass der Reichs-
kanzler nicht zugleich die preussische Stimme führe. Ich halte das
doch für möglich — ich halte es nicht für nützlich; der Reichskanzler
braucht nach der Verfassung, wie ich glaube, gar nicht Mitglied des
Bundesraths zu sein. Nach der Verfassung führt er den Vorsitz in
demselben und insoweit ein Vorsitz ohne Mitgliedschaft denkbar ist,
wäre es auch möglich, dass er nicht Mitglied wäre.“
® Thudichum, Verfassungsrecht pag. 130.