28 Die Stellung des Reichskanzlers im Bundesrathe.
gelegt wird, so kann, wenn man nicht ein sach- und sinn-
widriges Ueberbleibsel aus dem Verfassungsentwurf annehmen
will, hierin nur die verfassungsmässige Voraussetzung gefunden
werden, dass das Präsidium des Bundesrathes in irgend welcher
organischen Verbindung mit der Führung der ausschlaggeben-
den, also der preussischen Stimme stehe. Diese Verbindung
kann aber nur durch die Annahme des verfassungsmässigen
Satzes herbeigeführt werden, dass der Reichskanzler, der Prä-
sident des Bundesrathes zugleich preussischer Bevollmächtigter
und als solcher stimmberechtigtes Mitglied des Bundesrathes
sein müsse. „Präsidialstimme“ ist die preussische Stimme,
weil der sie führende preussische Bevollmächtigte verfassungs-
mässig zugleich der Präsident des Bundesrathes ist.
Damit ergiebt sich eine eigenthümlich komplizirte Stel-
lung des Reichskanzlers. Er stellt kraft der Verfassung eine
dreifache Person dar, als erster Reichsbeamter, als Präsident
des Bundesrathes, als Bevollmächtigter Preussens. Es ergiebt
sich damit die sonderbare Figur, dass der Kaiser, indem er
den Reichskanzler ernennt, damit zugleich die Person bezeich-
net, welche eine Vollmacht Preussens im Bundesrath trägt
und dass der König von Preussen als solcher nicht in der
Lage ist, dieser Person die Vollmacht vorzuenthalten, so lange
der Kaiser sie nicht ihres Amtes als Reichskanzler entkleidet.
Doch diese Sonderbarkeit entspringt nur einer formalistischen
Betrachtung. Sie ist der vollkommen zutreffende Ausdruck
für die politische Nöthigung, dass, wie der deutsche Kaiser
und der König von Preussen in verfassungsmässiger Per-
sonalunion stehn, so auch der oberste Reichsbeamte, der
Reichskanzler und Bundesrathspräsident, in organische Ver-
bindung mit der preussischen Vollmacht im Bundesrath ge-
bracht werde.
Mit dem gewonnenen Resultat verschwindet auch in einem
gewissen Masse der Widerspruch, der zwischen den Verfassungs-
artikeln 6, 7 und 15 besteht. Denn wenn der Präsident des
Bundesrathes auch nicht als solcher, so ist er doch verfassungs-
mässig zugleich Bevollmächtigter eines Einzelstaates. Und