Gesetzgebung und vollziehende Gewalt. 49
Mit dieser Auffassung scheint ein bedeutsamer Vorgang
in offenbarem Widerspruch zu stehen.
Als der Bundesrath am 3. April 1880 den Entschluss
gefasst hatte, die kaiserliche Vorlage über die Erhebung von
Reichsstempelabgaben dahin abzuändern, dass Quittungen über
Postanweisungen und Postvorschusssendungen steuerfrei bleiben
sollten, forderte der Reichskanzler unter dem 6. April seine
Entlassung mit der Motivirung, „dass er einen gegen Preussen,
Baiern und Sachsen gefassten Majoritätsbeschluss weder ver-
treten, noch in seiner Stellung als Reichskanzler von dem
Beneficium Gebrauch machen könne, welches a. 9 der Reichs-
verfassung der Minorität gewährt“.! Der Kaiser beantwortete
das Entlassungsgesuch des Reichskanzlers mit folgender, am
8. April veröffentlichter Kabinetsordre:
„Auf Ihr Gesuch vom 6. d. M. erwidere Ich Ihnen,
dass ich die Schwierigkeiten zwar nicht verkenne, in
welche der Konflikt der Pflichten, welche Ihnen die
Reichsverfassung auferlegt, Sie mit der Ihnen obliegen-
den Verantwortlichkeit bringen kann, Ich Mich aber
dadurch nicht bewogen finde, Sie Ihres Amtes um des-
halb zu entheben, weil Sie glauben, den Ihnen durch
Artikel 16 und 17 der Reichsverfassung zugewiesenen
Aufgaben in einem bestimmten Falle nicht entsprechen
zu können. Ich muss es Ihnen vielmehr überlassen,
bei Mir und demnächst beim Bundesrathe diejenigen
Anträge zu stellen, welche die verfassungsmässige Lö-
sung eines derartigen Konfliktes der Pflichten herbei-
zuführen geeignet sind.“
Hierin treten zwei Gesichtspunkte bedeutsam hervor:
der Reichskanzler weigert sich aus politischen Gründen
eine vom Bundesrathe beschlossene Vorlage an den Reichstag
1 Es ist vollkommen zutrefiend, dass der a. 9 dem Reichskanzler
als solchen ein Recht nicht gewährt. Denn als solcher kann er über-
haupt in keiner Minorität oder Majorität des Bundesrathes sein und er
hat als solcher die Ansicht einer Einzelregierung, von der hier nur die
Rede ist, nicht zu vertreten.
Haenei, Studien. II. 4