Das Reich und der preussische Staat. 61
Reichsverfassung; es sind Konzessionen an die Anforderungen
und Nöthigungen der praktischen Politik, die den Rahmen der
Reichsverfassung überspringen. Ja, soweit sich aus der gegen-
wärtigen Entwickelung auf die nahe Zukunft schliessen lässt,
sind diese Anforderungen und Nöthigungen der praktischen
Politik einer organischen, verfassungsmässigen Formulirung
überhaupt schwer zugänglich. Sie werden ihre Befriedigung
zunächst von der Kraft und dem Takte zu erwarten haben,
mit denen das schwierige Verhältniss der Organisation der
Reichsgewalt zu der preussischen Staatsgewalt gehandhabt
wird. Dies um so mehr, wenn wir die Schwierigkeiten in den
Kreis der Betrachtung eintreten lassen, die aus dem kon-
stitutionellen Systeme dadurch entstehen, dass die Verant-
wortlichkeit des Reichskanzlers und seiner Stellvertreter gegen-
über Bundesrath und Reichstag sich mit der Verantwortlichkeit
des preussischen Ministeriums gegenüber dem preussischen
Landtag in das Gleichgewicht setzen soll.
Je mehr wir diese Schwierigkeiten erwägen, je stärker
wir ihnen gegenüber die nothwendige Einheitlichkeit der
kaiserlichen und preussischen Politik betonen, desto mehr be-
darf es in allen Fällen des Zweifels, der Reibung, des Gegen-
satzes eines ausschlaggebenden Gewichtes. Wollen und sollen
wir dieses im Reiche finden, so tritt auch an diesen Punkten
die Berechtigung einer Entwickelung hervor, die die kaiser-
liche Gewalt zu einer überragenden, auf eigenem Rechte
fussenden Stellung beruft und damit zugleich die konstitutio-
nellen Verantwortlichkeitsverhältnisse der obersten Reichs-
beamten organisch ausgestaltet.