Das Verordnungsrecht des Kaisers und des Bundesraths. 65
durch besondere gesetzliche Vorschrift kann eine bestimmte
Form der Insinuation zur Bedingung der Rechtsverbindlichkeit
erhoben und ebenso kann an eine gewisse Bekanntmachung
die Präsumtion und die Rechtspflicht der Kenntnissnahme ge-
knüpft werden. Insbesondere werden häufig die Vollzugs-
verordnungen der höchsten Organe des Staates, wenigstens
dann wenn sie Rückwirkungen auf die Rechte und Pflichten
der Unterthanen ausüben, in den Formen der Gesetze mit
ihren Rechtsfolgen verkündet.
Im Gegentheile erfordern die gesetzvertretenden Verord-
nungen, wie die Gesetze selbst, an deren Stelle sie fungiren,
für ihre Rechtsverbindlichkeit die Verkündigung.
Die Verkündigung des Gesetzes durch das zuständige
Organ ist im Verhältnisse zu den gesetzerzeugenden Faktoren
erster Akt der Vollziehung des rechtsgültig entstandenen
Staatswillens, der in der erklärten Sanktion seinen Abschluss
findet; aber sie ist im Verhältniss zu den Staatsangehörigen,
deren Gehorsamspflicht zu Anerkennung und Befolgung ge-
bunden und bestimmt werden soll, integrirender und ab-
schliessender Bestandtheil des Bildungsprozesses des Staats-
willens, weil er für dieselben erst Das erzeugt, was für sie
den Staatswillen erst rechtlich relevant macht, die Rechtsver-
bindlichkeit desselben. Die Verkündigung ist überall in un-
serer modernen Staatsentwickelung, nachdem sie die Formen,
die sie in Öffentlicher Verlesung und Anschlag den Formen
der Insinuation näherte, abgestreift hat, zu einem Formalakte
geworden. So insbesondere durch die Bestimmungen der
Reichsverfassung in Artikel 2 und 17. Sie ist zu einem
Formalakte geworden in dem einen Sinne, dass bei Einhaltung
der gesetzlichen Verkündigungsformen die Rechtsverbindlich-
keit des rechtsgültig entstandenen Staatswillens unangeseben
der thatsächlichen Kenntnissnahme und ohne Rücksicht auf
18. z.B. Vereinszollgesetz vom 1. Jnli 1869 3163 und Gesetz betr.
die zur Abwehr der Rinderpest erlassenen Vieheinfuhrverbote vom
21. Mai 1878 5 3.
Haenel, Studien. II. 5