Das Verordnungsrecht des Kaisers und des Bundesratbes. 75
Bundesrathes auszuüben sei, das konnte nach strenger Aus-
legung nur in den anderweitigen Bestimmungen der Verfassung
oder in der weitern Entwickelung der Gesetzgebung seine
Feststellung finden.!
Aber allerdings die praktische Handhabung der Verfassung
während des norddeutschen Bundes ist über diese Strenge der
Auslegung hinausgegangen. Sie ist in vielen Fällen von der
Voraussetzung ausgegangen, als ob stillschweigend der Satz
verfassungsmässig begründet wäre, dass überall da, wo die
Verfassung und alsdann die Bundesgesetze einen Anhalt für
ein Verordnungsrecht im Namen des Bundes überhaupt boten
und dasselbe nicht ausdrücklich auf den Bundesrath über-
trugen, das Präsidium als solches zum Erlasse der Verordnung
berufen sei. Demgemäss erliess das Präsidium ohne besondere
Ermächtigung, unmittelbar auf Grund der Verfassungsartikel
2. 17. 18. 55 und zur Ausführung derselben, die Verordnungen
über die Einführung des Bundesgesetzblattes vom 26. Juli,
über die Einrichtung des Bundeskanzleramtes vom 12. August,
über die Bundesflagge der Kauffahrteischiffe vom 25. Oktober,
über den Diensteid der unmittelbaren Bundesbeamten vom
3. Dezember 1867 und auf Grund des $ 2 des Vereinszoll-
gesetzes vom 1. Juli 1869, welches nur allgemein von einem
„angeordnet werden können“ spricht, die zahlreichen Einfuhr-
und Ausfuhrverbote des Jahres 1870, letztere mit einer eben-
sowenig vorgesehenen Zustimmung des Bundesrathes.? Ja das
Präsidium hat sich trotz aller Bedenken, die einer solchen
Auslegung entgegenstehen, auf Grund des Artikel 61 der Ver-
fassung das Recht zugesprochen, durch die Verordnungen vom
7. November und 29. Dezember 1867 eine Reihe preussischer
Gesetze und Verordnungen über das Militärwesen in das übrige
Bundesgebiet einzuführen.
Diese freiere Entwickelung des Verordnungsrechtes des
ı S. Seydel gegen Zorn in Hirth’s Annalen 1876 pag. 11 ff. und
Laband, Staatsrecht II pag. 71 ff.
3 Bundesgesetzblatt von 1870 S. 483. 487. 509. 511. 513. 521. 563