seher dulde ich nicht, hat selber Millionen von Schwarzsehern
geschaffen.“ Dieser mit der an den Kern des Kaiserproblems rüh-
renden schlichten Wahrheit: „Wenn der Kaiser auch noch soviel
verspricht, er kann gar nicht anders, wie er nun einmal ist..
Schwerer Schaden an nationalen Werten ist angerichtet worden.“
Der Kanzler wünschte, daß Kiderlen, Stellvertreter des Staats-
sekretärs, seit einem halben Menschenalter nicht mehr mit dem
Reichstag vertraut, ein paar Worte zugunsten des vielgescholtenen
Auswärtigen Amtes spreche. Mit seiner Berufung auf das Miß-
verhältnis zwischen den Arbeitskräften und der hochgestiegenen Zahl
der Journalnummern kam der tapfere Schorabe im ungeeigneten
Augenblick, es gab unerzogene Abgeordnete, die ihn wegen seines
Außern — er trug eine gelbliche Weste, Hornbrille und schnäbelte
unverfälscht — auslachten. Sollte Bülow noch ein gutes Wort
für den Kaiser einlegen? Die Reddnerliste war erschöpft. Ein
kurzes Schlußwort mit der Mahnung, in alken Bitternissen doch
die Kaiserkrone hochzuhalten, war vorbereitet. Oder würden neue
Stürme im Hause ausbrechen? Kiderlens Beispiel schreckte. Ab-
geordnete eilten zum Pulte des Kanzlers heran: „Durchlaucht,
sprechen Siel“ Der Präsident zögerte, wartete. Der Abgeordnete
Diedrich Hahn, der Bauernbündler, rief warnend dazwischen: „Es
wird Ihnen gehen wie Bötticher 1)%. Da niemand vom Negie-
rungotisch mehr das Wort erbat, wurde die Debatte geschlossen.
Eine Adresse an den Kaiser war nicht zustande gekommen. Die
Konservativen wollten nicht so weit gehen, und darauf traten auch
die Nationalliberaten zurück. Was nun weiter? Der Kaiser war
seit dem 5. November unterwegs auf Reisen, erst in Eckartsau beim
Erzherzog Franz Ferdinand, um ein paar Dutzend Hirsche zu
schießen, darauf in Schönbrunn beim Kaiser Franz Joseph, end-
lich in Donaueschingen, in dessen Nähe er den G asen Zeppelin
zum größten Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts ernannte
1) Der Staatssekretär Staatsminister v. Bötticher hatte im Frühjahr 1897
eine scharfe Rede Eugen Richters im Reichstage gegen das persönliche Regiment
unerwidert gelassen und trat bald darauf zurück. S. „Der neue Kurs“, S. 153.
71