Sorge um das Mandat die Wahrung des Gemeinwohls zurück-
drängte, verloren sich die Debatten mehr und mehr ins Uferlose.
Bei der bürgerlichen Linken kam wieder der dogmatisme intolbrant
— ein Wort, das Jaur&ès einmal gegen die deutschen Sozialisten
angewandt hat — zum Vorschein, z. B. bei der Banderolesteuer.
Um nicht ganz steckenzubleiben, mußte die Blockmehrheit in der
entscheidenden Besitzsteuerfrage Notbrücken von einer Lesung zur
andern bauen. Der Anblick der Jerfahrenheit der Kommissions-
beratung, die Möglichkeit, daß der Kanzler genötigt sein würde,
ein nur quantitativ genügendes Steuerbukett aus den Händen einer
neuen schwarzblauen Mehrheit anzunehmen, schuf unter den auf
den Block Eingeschworenen im Lande eine der Regierung unfreund-
liche Stimmung. Der Kanzler fing an, seine eigenen Anhänger zu
verlieren.
Im Mai wäre die Schlacht vielleicht unter dem Beistand der
wieder ermutigten Kämpfer im Lande noch zu gewinnen gewesen,
wenn der Kanzler eine Stellung hoch über den Fraktionen genommen
und sachliches Geschütz aufgefahren hätte. Schlug auch dies fehl,
so wäre es doch nicht schlecht gewesen, zu fallen wie der alte
Schwerin, mit einer guten Fahne in der Hand. Aber gerade im
Sachlichen war Bülow nicht stark, es gab bein Gebiet, das seinen
Fähigkeiten und Neigungen ferner lag als das der Finanzen. Daher
und wohl auch wegen des gestörten inneren Verhältnisses zwischen
Kaiser und Kanzler ließ er unter dem Einflusse des Reichsschatz-
sekretärs, der mehr auf die Vorgänge in den vier Wänden des Kom-
missionszimmers als auf die Stimmung im Lande sah, die Dinge
gehen, wie sie eben gingen. Ende Mai zeigte sich auf einmal eine
starke Beschlußfreudigkeit in der Kommission, eine Reihe neuer
Steuergesetzentwürfe wurde eingebracht, um den Betrag zu decken,
den die dem Bunde der Landwirte verhaßte und von den Konserva-
tiven hartnäckig verweigerte Erbanfallsteuer bringen sollte. Ein
Eiltempo löste den Schneckengang ab. Die Tagesfrage in der Presse
lautete nun: „Wird Bülow bleiben oder gehen?“
Der Kaiser hatte sich nach seiner Erkrankung (Ende No-
vember) fast vier Wochen lang ununterbrochen in seiner Potsdamer
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