Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 89
und sich widersprechender kirchenpolitischer Systeme, aber im Wesen gleich. Denn mit jener reichs-
gesetzlich proklamierten Einheit von 380 war offenbar die Möglichkeit einer doppelten Entwickelung
in die Weltgeschichte gelegt. Der Staat konnte sich die Kirche, die Kirche sich den Staat ein-
gliedern. Einheit in beiden Fällen. Im einen Fall dargestellt durch die Herrschaft des Staates
über die Kirche, im andern verwirklicht durch die Herrschaft der Kirche über den Staat. Die Ge-
schichte hat beide Folgerungen gezogen, nachdem schon im Jahre 395 die Teilung des römischen
Reichs in die östliche, morgenländische mit der Hauptstadt Byzanz und in die westliche abendländi-
sche Hälfte mit der Hauptstadt Rom vollzogen war.
Die Kaiser von Byzanz verengerten den Einheitsgedanken zur absoluten Herrschaft des
Staates über die Kirche. Seinen klassischen Ausdruck fand dieses Verhältnis in der Gesetzgebung
Justinians, vor allem im Cod. Just., lib. I, tit. 1—13. Kein kirchliches Rechtsverhältnis, von
Dogma und Kultus fortschreitend bis zu Disziplin und Kirchenvermögen, welches nicht hier von
der omnipotenten Gesetzgebungsgewalt der Kaiser geregelt worden wäre. Sie beherrscht das
Kirchenwesen nach all seinen inneren und äusseren Beziehungen. Der Byzantinismus ist
der weltgeschichtliche Typ für die bedingungslose Unterordnung unter den Willen des Staats ge-
worden. Von den weiteren Schicksalen der Entwickelung im Morgenland ist hier abzusehen und nur
das Resultat zu fixieren. Die Einheit von Staat und Kirche im Sinne der absoluten Staatsherrschaft
ist für alle aus dem Orient hervorgegangenen Kirchenkörper bis in die Gegenwart hinein die mass-
gebende Verhältnisform geblieben. So verschieden auch unter den wechselvollen Einflüssen der
politischen Geschichte die Schicksale jener Kirchen und ihrer zahlreichen Denominationen sich ge-
staltet haben, nirgends hat sich eine grundsätzliche Scheidung des politischen und religiösen Ele-
ments, der staatlichen und kirchlichen Organisation vollzogen, weder im Verhältnis des Staats zur
griechisch-orthodoxen Kirche des russischen Reichs, noch im Königreich Griechenland oder in den
Balkanstaaten. Auch die abendländisch mittelalterliche Geschichte hat ähnliche Perioden abso-
luter Staatsherrschaft über die Kirche durchlaufen und ebenso ist der Protestantismus in den
beiden ersten Jahrhunderten seines Bestehens kaum mehr als ein Departement der Staatsverwaltung
gewesen. Aber überall war dieses Verhältnis im Abendland nur Übergangsform, die Lebenskreise
der Kirchen haben sich schliesslich mit relativer Selbständigkeit im Staate bewegt. Die orienta-
lischen Kirchen dagegen haben die ursprüngliche Ausstattung des Byzantinismus in allen wesent-
lichen Zügen beibehalten.
Anders die Entwickelung im Abendland. Hier lösten sich in Jahrhunderte langem Wechsel
die beiden Formen des Einheitsgedankens ab.
Durch eine merkwürdige Gruppierung der Gedanken gebenden Personen und entscheidenden
geschichtlichen Tatsachen hat sich hier in grossem Stile der Einheitsgedanke zunächst im Sinne der
absoluten Herrschaft der Kirche über die Staaten abgeschlossen. Allerdings erst nach endlosen
Reibungen und Schwankungen, nach heftigem Ringen der christianisierten germanischen Staaten,
nach Überwindung der Gegenkraft mächtiger Träger des Staatsgedankens, fränkischer und deutscher
Könige. Aber vom Höhenstandpunkt retrospektiver Betrachtung erscheinen alle diese Kämpfe
mit der päpstlichen Gewalt nur als wechselvolles Schlachtenspiel in dem unaufbaltsamen Siegeszuge
Roms. Die urkundliche Deckung für die kirchliche Weltherrschaft war schon im 9. Jahrhundert
durch die gefälschten Dekretalen Pseudoisidors beschafft. Die hierin verbrieften Rechte wurden
durch die führenden Päpste, beginnend mit Gregor VII. und endigend mit Bonifaz VIII. in Taten
umgesetzt. Am Ende des 11. Jahrhunderts ist die absolute Kirchenherrschaft etabliert und sie
weiss sich bis zu dem Anfang des 14. zu behaupten. Ihre höchste quellenmässige Offenbarung hat
sie in geschlossener und zwingend folgerichtiger Gedankenreihe vor allem in dem grossen kanonischen
Rechtsbuch des Mittelalters, dem Corpus juris canoniei gefunden. Viele Hunderte von Dekretalen
zeugen von den: hier bis ins feine und kleine durchgebildeten System der weltumspannenden päpst-
lichen Suprematie. Die monumentalste Einzelurkunde dieses Rechtsbuches ist die Bulle Unam
Sanctam von 1302, doppelt interessant als Zeugnis vom Höhepunkt und zugleich vom Wendepunkt
der päpstlichen Allgewalt. Die Summe des ganzen aber ist diese. Die Kirche der die ganze Mensch-
heit umfassende göttliche Universalstaat. Das Haupt der Kirche also auch das Haupt der Welt.
Die Gottgegebene Gewalt des Papstes ist priesterliche und königliche zugleich. Er bat die beiden