99 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche.
und unterschiedener Organismus anerkannt. Konsequent ist die Differenzierung noch nicht durch-
geführt, das Mass der Staatsaufsicht noch nicht überall richtig begrenzt, aber die Zukunft ist in
allen entscheidenden Umrissen erkennbar. Das Verhältnis von Staat und Kirche soll auf die Grund-
lage gestellt werden, dass, weil sie in ihreın Wesen verschieden sind, auch ihr rechtliches Verhältnis
mit Unterscheidung ihrer Organe und Zuständigkeiten geordnet werde. Der Staat müsse sich
darauf beschränken, über die äusseren Rechtsverhältnisse der Kirchen- und Religionsgesellschaften
eine aufsehende, ordnende und schützendeKirchenhoheit, als Teil seiner allgemeinen Staats-
hoheit, auszuüben, ihr dagegen für ihre inneren Verhältnisse Freiheit und Autonomie gewähren.
Diese Ziele sind aus dem allgemeinen Zug der Entwickelung deutlich zu erkennen. Auf deutschem
Boden geschichtlich bedingt war dieser Übergang zum System der Staatskirchenhobeit,
wie ıman es passend nennt, durch den Reflex der grossen politischen Umwälzungen auf das Kirchen-
wesen am Anfang des 19. Jahrhunderts. DurchdenReichsdeputationshauptschluss
von 1803 unddieRheinbundsakte von 1806 war im alten Reich so zu sagen kein Stein mehr
auf dem andern geblieben, waren alte Territorien zertrümmert, neue Staaten gegründet. In ihnen
waren durch die Ländergeometrie die Konfessionen bunt durcheinandergewürfelt. Der Konfessions-
staat war zerbrochen. Die in ihm dargestellte Einheit von Staaten und Kirchen war durch den Zu-
sammmenbruch des alten Reiches tatsächlich aufgelöst. Damit war die Entwickelung unwiderruflich
auf die Linie des modern paritätischen Staates geschoben. In dem Anerkenntnis der Wesensver-
schiedenheit von Staat und Kirche waren nunmehr auch die inneren Bedingungen für das System
der Staatskirchenhoheit gesetzt. Im Anschluss an das Preussische Allgemeine Landrecht hat es
sich, zögerlich zuerst noch in der Gesetzgebung der deutschen Rheinbundsstaaten, allgemein sodann
während des deutschen Bundes, im Zusammenhang mit der Einführung der konstitutionellen
Staatsformen, in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts entwickelt und durchgesetzt. Zuerst in
Bayern in der Verfassung vom 26. Mai 1818, zuletzt in Preussen in der Verfassung vom 31. Januar
1850. Es ist das in Deutschland herrschende kirchenpolitische System
derGegenwart.
Sein Rechtsinhalt wird demnächst besonders zu prüfen sein. Vorerst aber sind auch die
Schlussreihen der geschichtlichen Tatsachen des 19. und begonnenen 20. Jahrhunderts noch voll-
ständig zu ordnen und die kirchenpolitischen Gesamtergebnisse zu würdigen. Denn parallel mit dem
System der Kirchenhoheit haben sich noch zwei weitere Vorstellungen über die grundsätzliche
Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche gebildet, welche, ohne sich im ganzen durch-
setzen zu können, jenes doch widerspruchsvoll beeinflusst haben und auch in der Kirchenpolitik
der Gegenwart eine entscheidende Rolle spielen.
ie eine dieser Vorstellungsreihen steht noch auf der Linie des Einheitsgedankens und wurde
überwiegend von evangelischer Seite eingeführt. Es ist die Vorstellung vom interkonfessionell
christlichen Staat. Das System des Staatschristentums hatte seinen geschi htlichen
Anknüpfungspunkt in einem bekannten und merkwürdigen Vorgang. Nachdem durch die zuvor
zeschilderten Ereignisse die staatlich gezogene Scheidewand zwischen den Konfessionen gefallen
und unter den Gerichten der Völkerkriege eine allgemeine religiöse Stimmung geboren war, lag die
praktische Verwertung des allgemein Christlichen für das Staatsleben so zu sagen im Geist der Zeit.
Er nahm Fleisch und Blut an in der heiligen Alliance vom September 1815. In Alexander I. von
Russland, Franz I. von Österreich und Friedrich Wilhelm III. von Preussen schlossen die euro-
päischen Repräsentanten der drei grossen christlichen Kirchen einen Bund, um „über den Zwiespalt
des Bekenntnisses hinaus das Christentum zum höchsten Gesetz des Völkerlebens zu erheben“.
Internationale Verwirklicbung konnte der phantastische Plan nie finden. Wohl aber hat er Spuren
in das national staatskirchliche Leben gezeichnet. In Deutschland hat er die Idee vom christlichen
Staat propagandiert. Literarisch und parlamentarisch wurde sie hier mit Geist und Temperament
vertreten. Ihre Vertretung ist mit dem Namen der Minister Eichhorn, v. Bodelschwingh, v. Mühler,
der Professoren Stahl und Thiersch, auch Bismarcks eng verknüpft. Bei jedem mit einem im einzelnen
besonders gearteten Programm und einem nach Beruf und Gelegenheit verschiedenartigen Zweck.
Gemeinsam ist nur die Forderung, dass der Staat sich zwar nicht mehr mit einer bestimmten Kon-
fessionskirche zu identifizieren, wohl aber für seine Einrichtungen einen allgemein interkonfessionell