94 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche.
schliesst: die Trennung von Staatund Kirche. Die Überführung des Systems der
Kirchenhoheit in dasder Trennung ist das Problem der Zukunft. Von seinem Inhalt und seinen Aus-
sichten ist später besonders zu handeln. Es ist der einzige Konkurrent, welcher für die Zukunft
Deutschlands in Betracht kommt.
Es scheiden für diese zunächst die beiden polarischen Einheitssysteme des Kirchenstaatstums
und des Staatskirchentums aus. Sie gehören im ganzen einer unwiderruflichen Vergangenheit an.
Beiden fehlen heute alle Voraussetzungen der Verwirklichung. Beide sind mit den Grundlagen
des modernen Staates unvereinbar. Das eine vernichtet die Freiheit des Staats, das andere die der
Kirche. Beide sind endgültig erledigt. Daran ändert auch nichts der Umstand, das Rückfälle
inbeide Systeme sich ereignen, die Kirchenpolitik gelegentlich beunruhigen und vorüber-
gehend sogar einen Einfluss auf Verwaltung oder Gesetzgebung ausüben konnten. Dies gilt zunächst
in weitgehendem Masse von dem System des Kirchenstaatstums. Auch nachdem es seit dem 14.
Jahrhundert sich nicht mehr im ganzen durchsetzen konnte, hat es doch zu bestehen nicht aufgehört.
Es ist das offizielle System der römischen Kurie geblieben. Dies hat sich teils in zahllosen theoreti-
schen Verwahrungen, teils in einzelnen praktischen Vorstössen offenbart. Unter jenen ist von
bleibender Bedeutung die Erfindung der sogenannten Privilegientheorie zur Erklärung der recht-
lichen Natur der Konkordate; hiernach sind diese päpstliche Indulte, in welchen die Kirche dem
Staat ınadenweise gewisse Rechte konzediert. Unter den praktischen Vorstössen älterer Zeit
behält monumentale Bedeutung die durch eine einzigartige Sammlung von Verwünschungsformeln
ausgezeichnete Bulle Innocenz X Zelo Domus Dei vom 20. November 1648, durch welche der west-
fälische Friede für null und nichtig erklärt wurde. Als Zeugnisse aus neuerer Zeit sind erwähnens-
wert die Encyklika Respicientes ea omnia vom 1. November 1870, durch welche der göttlich be-
gründete Anspruch auf den Besitz des Kirchenstaats verwahrt wird, die Encyklika Quod nungquam
vom 5. Februar 1875, in welcher Pius IX. den Anachronismus unternahm, die Preussischen Mai-
gesetze für null und nichtig zu erklären, vor allem aber der Sylabbus errorum vom 8. De-
zember 1864, in welchem u. a. jede vom päpstlichen System abweichende Gestaltung des Verhält-
nisses von Staat und Kirche als Zeitirrtum, Gewissens- und Kultusfreiheit als Wahnsinn verworfen
wird. Auch das Vatikanische Konzil bedeutet einen Markstein in der geschichtlichen Reihe dieser
prinzipiellen Verwahrungen. Durch die Constitutio Pastor aeternus ist allen früheren
päpstlichen Aussprüchen ex cathedra über das Verhältnis von Staat und Kirche der Charakter der
Unfehlbarkeit beigelegt und damit das Ganze der mittelalterlichen Hoheitsansprüche dem Quellen-
bestande des geltenden Rechts einverleibt. In :ller Gedächtnis sind endlich die Vorstösse, welche in
zahlreichen Dekreten Pius X gegen Modernismus und Parität unternommen hat. Allerdings steht
diesen Zeugnissen gegenüber die Tatsache, dass das Papsttum selbst in vielen Fällen von den Forder-
ungen der absoluten Kirchenherrschaft einiges nachgelassen hat. Die amtlich hierfür aufgestellte
römische Formel lautet: „ratione temporum habita concedimus.‘“ Aber eben diese Formel schliesst
dieprinzipielleVerwahrunginsichein. Diese prinzipielle Verwahrung wird sich in der
einen oder anderen Form immer wiederholen. An der modernen Entwickelung des Verhältnisses
von Staat und Kirche wird sie nichts mehr ändern. Zweifellos hat das System eine weltgeschicht-
liche Mission erfüllt, seinen Zeitaltern Grosses geleistet und eine Menge von Kulturwerten gesichert.
Aber es ist unmöglich für Gegenwart und Zukunft. Der gute Glaube an die Authenticität der
Rechtsquellen, auf die es sich stützen konnte, ist zerstört. Es fehlt ihm die Legitimation der frei-
willigen Unterordnung der Staaten. Die Voraussetzung der rechtlichen Einheit der Kirche, welche
allein seine Durchführung ermöglichte, ist entfallen. Mit der Aufgabe der Paritätspflege der Staaten
ist es unvereinbar. Mit alledem hat sich sein Schicksal erfüllt und alle anachronistischen Rückfälle
können nur dazu dienen, die unüberbrückbare Kluft von einst und jetzt um so greller zu beleuchten.
Auch das andere Einheitssystem hat Rückfälle zu verzeichnen. Aber dieses moderne Staats-
kirchentum trägt andere Züge. Kein Staat hat sich den grundsätzlichen Anspruch der ab-
soluten Herrschaft über die Kirche vorbehalten. Nur gelegentlich haben sich Staaten von verletzen-
den Übergriffen in die Kirchenfreiheit im Sinne des älteren Systems nicht freigehalten. Das ist,
wo und wie es immer geschehe, Rückfall in das Staatskirchentum. Kleine Beispiele davon hat die
Geschichte des Preussischen Kirchenkonflikts in den siebziger Jahren dargeboten. Missverständlich