Franz Oppenheimer, Staat und Gesellschaft. 115
„politischeMittel“;eskann bestehen in äusserer Gewalt: Raub, Krieg, Diebstahl, Notzucht,
Nötigung — oderin Missbrauch geistigen Übergewichts: Betrug, Erweckung von Geisterfuroht usw,
So bestehen vonallem Anfang der menschlichen Kultur an. so weit wir rückwärtssehen können,
zwei in ihrer Wurzel verschiedene Ärten von Beziehungen zwischen den Menschen und den mensch-
lichen Gruppen: ökonomische, äquivalente — und politische, inäquivalente. Auf primitiver Horden-
stufe (bei den Jägern) überwiegen intratribal die ökonomischen, intertribal die politischen Bezie-
hungen. Indessen finden sich in der Ausbeutung der Frauen durch die Männer und aller durch die
Medizinmänner bereits intratribal Ansätze zu politischen Beziehungen, während andererseits inter-
tribal im Gast- und Handelsverkehr, in gemeinsamen Messen, Märkten und Festen sich Ansätze zu
ökonomischen Beziehungen entwickelt haben.
In dem Masse, wie die menschlichen Gemeinschaften wachsen, sich konsolidieren und in
wirtschaftliche Arbeitsteilung und -vereinigung treten, vermehren und verdichten sich auch jene
ökonomischen und politischen Beziehungen zwischen den Menschen und den menschlichen Gruppen,
entfalten sich nach ihren eigenen Entwicklungstendenzen, erschaffen sich Sitten und Gesetze, In-
stitutionen und Anstalten, Vorstellungen und Überzeugungen als die kleinsten Mittel ihres möglichst
erfolgreichen Ablaufs. Alle diese Dinge verflechten und durchdringen sich überall, sodass z. B. eine
Sitte, ein Gesetz beiden dient, eine Austalt beide Beziehungen gleichzeitig fördert; und dennoch
kann ein geschultes Auge die Fäden auseinanderhalten, jeden Bestandteil dem ökonomischen Mittel
hier, dem politischen dort mit grosser Wahrscheinlichkeit, in allem Wesentlichen sogar mit voller
Gewissheit zuweisen.
Den Inbegriff aller durch das ökonomisohe Mittel gesetzten Beziehungen zwischen Menschen
und Menschengruppen, — oder kürzer: das entfaltete ökonomische Mittelnenne
ich „Gesellschaft“. Und auf der anderen Seite: den Inbegriff aller durch das politische Mittel
gesetzten Beziehungen zwischen Menschen und Menschengruppen — oder kürzer: dasentfal-
tete politischeMittelnenne ich „Staat“. Will man noch näher unterteilen, so kann man
in der „Gesellschaft“ unterscheiden zwischen den durch die Arbeit gesetzten Beziehungen, der
lul ft ‚unddendurch denäquivalenten Ta usc h gesetzten Beziehungen,
der Tausch- oder Marktgesellschaft andererseits: und man kann innerhalb des „Staates“ unter-
scheiden zwischen den durch äussere @ewalt gesetzten Beziehungen, dem Staate im engeren
Sinne, einerseits, — und den durch geistliche Gew alt gesetzten Beziehungen, der „Kirche“,
andererseits. (Hierbei ist natürlich nur an herrschende Kirchen gedacht, wie sie etwa in Ägypten
im Neuen Reich, in Tibet, im katholischen Früh-Mittelalter bestanden.)
A. Der Staat als das entfaltete politische Mittel.
Diese Auffassung des Staates als des entfalteten politischen Mittels lässt sich m. E. unwider-
leglich beweisen, wenn man das einzige Kennzeichen des äusseren Aufbaues ins Auge fasst, das allen
historischen Staaten gemeinsam ist, so verschieden sie sonst nach politischer und wirtschaftlicher
Verfassung, nach Recht und Sitte, nach Rasse und Klima, nach Gebietsgrösse und Volksdichtigkeit
usw. sein mögen. Dieses einzige gemeinsame Kennzeichen ist ihr Wesen als „Klassenstaat“:
alle sind sie in soziale Rang- und ökonomische Vermögensklassen über- und untergeschichtet. Diese
Klassen sind durch das politische Mittel geschaffen worden, wie die historische und ethnographische
Induktion zeigt, und konnten nur durch das politische Mittel geschaffen werden, wie die De-
duktion mit mathematischer Stringenz zeigt.
Die ältere ökonomische und staats- wie geschichtsphilosophische Theorie ist irrtümlicher-
weise von der gerade entgegengesetzten Konstruktion ausgegangen, und das ist die tiefste Wurzel
aller ihrer Fehlgänge. Diese Konstruktion ist die sogenannte „ursprüngliche Akkumulation‘, die
schon aus der Stoa stammt. Danach bildet den Anfang der menschlichen Gemeinschaft ein Stamm
freier und. gleichberechtigter Menschen mit ungefähr gleichem Vermögen und Einkommen. All-
mählich differenziert sich diese Gemeinschaft unter der Wirkung rein ökonomischer Kräfte in Ver-
mögensklassen, die dann zu sozialen Rangklassen werden. Und zwar häuft sich das Vermögen in den
Händen einzelner an durch Glück (Jakobs Herde, kleine Kinderzahl usw.), vor allem aber durch
Fleiss, Sparsamkeit, Nüchternheit, Voraussicht usw.