Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

116 Franz Oppenheimer, Staat und Gesellschaft. 
Diese Auffassung (Marx nennt sie eine „‚Kinderfibel‘‘) widerspricht zunächst aller geschicht- 
lichen Erfahrung. Die Klassen sind überall da, wo wir die Geschichte „autogener‘“ Staaten genauer 
kennen, mit Gewissheit durch äussere Gewalt (Eroberung, Unterwerfung) oder durch geistliche Ge- 
walt geschaffen worden. Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die nicht autogenen, die Kolonial- 
staaten: hierhin sind die sozialen Klassen und vor allem das Klassenrecht fertig aus dem Mutterlande 
eingeführt worden. Mit dieser Einschränkung kann man aussprechen, dass die historische Induktion 
keine widersprechende Tatsache auffindet. Indessen ist die Überlieferung doch so lückenhaft, dass 
es vorteilhaft sein wird, auch noch deduktiv den Beweis zu erbringen, dass die Klassen und der 
Klassenstaat niemals durch das ökonomische Mittel entstanden sein können. 
Es ist nie bestritten worden und kann nie bestritten werden, und alle Schulen stimmen denn 
auch darin überein, dass diese soziale und ökonomische Differenzierung innerhalb einer Gruppe von 
lauter Gleichen und Freien nicht eher beginnen kann, als bis alles Landokkupiertist. 
Denn nicht eher gibt es „besitzlose Nurarbeiter‘‘ oder „freie Arbeiter‘ (Marx) — und vor Ent- 
stehung einer Arbeiterklasse kann man Grossgrundeigentum und Grosskapitaleigentum weder bilden 
noch verwerten! Kapital und besitzlose Arbeiterklasse sind Korrelatbegriffe. Jene Lehre 
nahm an, dass diese Okkupation allen Bodens, die Voraussetzung aller sozialen Differen- 
zierung, bereits in Urzeiten dadurch vollzogen war, dass sich selbstbewirtschaftete Bauernhufen 
neben einander ordneten, bis das Land voll war, also eine rein-ökonomische Entwicklung. Die 
Annahme ist falsch! Jede Division des agrarischen Nutzlandes einer Nation durch die Zahl ihrer 
Landbevölkerung zeigt, dass noch heute überall viel mehr Land vorhanden ist, als unter dieser An- 
nahme gebraucht würde. Während z. B. die altgermanische Hufe nur 71, ha umfasste, könnte man 
heutesogar im dichtbevölkerten Deutschland jeder fünfköpfigen Landfamilie 10ha Nutzland zuweisen. 
Hätte sich also jene vermeintliche ökonomische Okkupation vollzogen, so wäre noch heute inDeutsch- 
land der Zeitpunkt nicht erreicht, wo die Differenzierung in soziale Klassen erst solltebeginnen 
können. Damit ist bewiesen, dass die Okkupation des gesamten Grund und Bodens der Kulturwelt 
und die Entstehung von Grossvermögen einerseits und der Arbeiterklasse andererseits, d. h. die 
Bildung des historischen Klassenstaates, nicht durch das ökonomische, sondern das politische Mittel 
erfolgt ist. Die soziologische Theorie hat als ihren Ausgangspunkt nicht die Gesellschaft der Freien 
und Gleichen zu wählen, die nie und nirgend existiert hat, sondern die historisch überall verbürgte 
Gesellschaft der Freien, die über Unfreie herrschten. Das Grossvermögen hat sich nicht durch ur- 
sprüngliche Akkumulation allmählich differenziert, sondern ist sofort bei der Staatsgründung als 
deren Zweck durch einseitige Gewalt, durch das politische Mittel, gesetzt worden; und die sozialen 
Rangklassen sind nicht aus der Vermögensverschiedenheit entstanden, sondern gingen ihr voraus. 
Nicht wirtschaftliches, sondern kriegerisches (und geistliches) Übergewicht haben sie ins Leben 
gestellt. 
Das derart durch Gewalt entstandene Eigentum (Dührings „Gewalteigentum‘“) tritt histo- 
risch primärin drei Formen auf, von denen die beiden früheren unbestritten „politisches Mittel‘ 
sind: Sklaverei und Hörigkeit; die dritte primäre Form ist dieSperrungdes Grund und Bodens 
durch die Oberklasse gegen das Siedlungsbedürfnis der Unterklasse, d. h. ihre Absperrung kraft 
Rechtens von ihrem Produktionsmittel. Die privatrechtliche Form dieser Aussperrung ist das Gross- 
grundeigentum. Überall hat die Oberklasse allen noch nicht von selbstwirtschaftenden Bauern be- 
siedelten Boden unter sich verteilt, sodass kein Nicht-Landbesitzender Zugang zu Boden finden 
kann, ohne ihr den Tribut der Grundrente zu entrichten. Diese künstliche, rechtlich e Beschrän- 
kung des Vorrats an Land wirkt natürlich genau so auf die Differenzierung der Vermögen und Ein- 
kommen, als handelte es sich um jenenatürlich e Knappheit des Bodens, die die ältere Theorie 
als gegeben annahm. (Brot steigt genau so im Preise, wenn es infolge schlechter Ernten, als wenn es 
infolge einer Sperre, etwa während einer Belagerung oder durch Spekulanten, im Verhältnis zum 
Begehr knapp vorhanden ist.) Die Klasse „freier, besitzloser Nurarbeiter‘“ muss sich bilden, wo 
sie nicht etwa schon historisch überkommen ist; das Grossgrundeigentum lässt sich immer besser 
„verwerten“ in dem Masse, wie mit steigender Bevölkerung die Erträge und die Preise der Nahrungs- 
mittel wachsen. Und jetzt ist überall da, wo die Freizügigkeit besteht, auch jenes „Kapitalver- 
hältnis‘‘ (Marx) gegeben, ohne das ein Stamm von produzierten Produktionsmitteln nicht „Kapital“
	        
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