Josef Kohler, Staat und Recht. 121
Philosophie des Staates. — Eisler, Soziologie S.53 £. — Cathreiner, Moralphilosopbie (5. Auflage) IL S, 387 £,
462f. — Kohler, Rechtsphilosophie S. 38, 142, 203. — Kohler, In der Enzyklopädie der Rechtswissen-
schaft (2. Aufl, IS.1£.— Kohler, Das Recht (in Buber, die Geselischaft). — Kohler, Zur Urgeschichte der Ehe,
Das Recht entspringt aus der menschlichen Gemeinschaft und beruht darauf, dass die
einzelne Persönlichkeit zwar nach einer Seite hin in der Gesellschaft und ihren Gesamtbildungen
aufgeht, aber nur um nach der anderen Seite hin als Einzelwesen ihre Geltung zu erlangen und im
Streben nach Selbstverwirklichung der Menschheit zu dienen.
Diese Stellung des Menschen beruht auf seiner gesellschaftlichen Natur: er wird, ähnlich
wie in der Tierwelt das Herdentier, sich nur im Zusammenhalte wohl fühlen und nur hier etwas
Beträchtliches leisten. Daher finden wir den Menschen von jeher in Gruppen: sämtliche uns be-
kannten Naturvölker leben in mehr oder minder innigen Horden zusammen; und wo die Horden-
bildung ihren Zusammenhalt verlor oder gar zur Auflösung gelangte, hat auch die Bevölkerung
ihren Halt verloren, und ihre Bedeutung für das Kulturleben ist dahin.
Man wird die ursprünglichen Gruppen und Horden nicht wohl als Staaten in unserem Sinne
bezeichnen können. Sie haben zwar eine Herrschaft, die bald einem Einzelnen, bald der Versamm-
lung der Erwachsenen, bald den Greisen, bald ausgewählten Personen zukommt, sie haben einen
Zusammenhalt in ihrer Religion und in ihren religiösen Gebräuchen, sie bilden sich ein, von gött-
lichen Mächten erfüllt zu sein, und führen auf diese Weise ein genossenschaftliches Leben, das sich
bald in Festen, bald in entbehrungsvollen Gebräuchen äussert. Der Einzelne aber muss hierbei
den Geboten der Gesellschaft folgen und insbesondere in seinem ehelichen Leben, in dem Leben
als Hordengenosse diejenigen Grundsätze beobachten, welche die Gesamtheit als dem göttlichen
Wesen entsprechend erachtet. So ist das Recht bei diesen Völkern zum grössten Teil Hordenrecht,
und zwar oft ein recht verwickeltes Hordenrecht. Daneben entsteht eine Menge von Gebräuchen,
die sich nicht zum Recht verdichten, die aber doch beobachtet werden, weil man aus der Zuwider-
handlung die Nachteile göttlichen Zornes und ungünstigen Geschickes befürchtet.
Allmählich, nachdem die materielle Kultur sich entwickelt hat und die Völker zur Boden-
pflege gelangt sind, tritt auch das Verhältnis zwischen Mensch und Natur stärker hervor. Die
Natur wird in das menschliche Bereich gezogen, sie wird aus dem religiösen Frieden, in dem sie lag,
aufgestört und den menschlichen Göttern unterworfen. Daher der verbreitete Brauch, durch Opfer
und Sühnung die Götter zu begütigen, welche der rücksichtslose Eingriff in das Naturwalten
verletzt hat. So entwickelt sich der Begriff des Eigentums, zuerst als Gesamteigentum und dann
allmählich immer mehr als ein „Präcipuum“ desjenigen, der durch seine Arbeit sich mit der Sache
in nähere Beziehung gesetzt hat. Die Verbindung zwischen Person und Sache ist zuerst eine reli-
giöse, dann eine profan weltliche.
In der Horde erwirbt bald ein Institutdie Hauptbedeutung, die Familie. Die Familie,
nicht als Einzelfamilie, sondern als ganzes Geschlecht, als Gesamtheit der Personen, die in kennt-
licher Verwandtschaft zu einander stehen, erfüllt lange Zeit eine Menge von Aufgaben der Kultur,
welche die Horde nicht übernimmt oder auch gar nicht übernehmen kann. Allerdings erfolgt diese
Kulturtätigkeit in eigenartiger Weise: während die Familie den Einzelnen an sich zieht, stossen
sich die Familien gegenseitig ab und verbinden sich nur zu gewissen wichtigen Akten gemeinsamen
Interesses. Auf diese Weise entstehen die Familienkämpfe, die Geschlechterkriege, welche ein so
reiches Blatt in der Geschichte der Menschheit bilden und deren Erinnerung noch Jahrhunderte
lang in Mythen und Gesängen nachklingt. Ein Element allerdings muss die Familien immer
wieder einigen, nämlich die gegenseitige Eheschliessung, denn es gilt schon lange her als Gesetz,
dass die Ehe nicht in demselben Geschlecht, sondern in einem anderen Geschlechte geschlossen
werden muss. Und so stossen die Familien sich ab und vereinigen sich wieder.
Allmählich tritt das Einzelwesen kräftig und kräftiger hervor und sucht sich zur Geltung
zu bringen, aber immer noch steht es unter der Disziplin der Familie, in letzter Instanz unter der
Disziplin der Horde und muss sich seine Selbständigkeit mit Mühe erkämpfen.
In dieser Verfassung finden wir beispielsweise die griechischen Stämme nach der dorischen
Völkerwanderung. Der Stamm selber bildet eine etwas lose Einheit der Geschlechter, Phylen,
Phratrien, die sich wieder in Untergeschlechter teilen, und auf solche Weise ist die grössere Einheit
durch die kleineren Gesamtheiten ständig in Schach gehalten.