Josef Kohler, Staat und Recht. 123
die nächsten Mitglieder beschränkt; sie wahrt dem Einzelnen sein Eigentum und das Recht seiner
Immaterialgüter; sie gibt ihm die Befugnis, sein Vermögen neu zu gestalten und Verträge nicht
nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft zu schliessen, sie gibt ihm die Möglichkeit,
sich durch Versprechen zu binden und sich in gewissem Masse seinem Nächsten zu unterwerfen; sie
gibt aber vor allem dem Einzelnen die Fähigkeit, durch Gesellschaft und Vereinsbildung über die
Schranken des Individuums hinauszugehen und sich Aufgaben zu stellen, denen der Einzelne
nicht gewachsen wäre.
Diese rechtsschöpferische Gemeinschaft konzentriert sich, sobald die Staatenbildung sich
vollzogen hat, im Staate; wie das Recht früher ein Recht der einzelnen Horden, Geschlechter,
Verbände gewesen war, so wird es jetzt ein staatliches Recht. Der Staat übernimmt das Recht
nach allen Seiten hin, und er bestimmt es durch seine Gesetzgebung in souveräner Weise, Die
rechtsschöpferische Gewalt ar.derer Mächte muss der des Staates wcichen, die Autonomie
der übrigen Gemeinschaften wie der Kirche wird auf ihr Gebiet beschränkt, in der Sphäre des
allgemeinen Rechts waltet der Staat absolut.
Er weiss auch das Recht zur Durchführung zu bringen und gewährt die Zwangsmittel des
Prozesses und die äussersten Mittel des Strafrechtes, damit die Rechtserfordernisse nicht bloss Er-
fordernisse bleiben, sondern zur Wirklichkeit werden.
Soll dieses staatliche Recht ein absolutes und ausschliessliches bleiben ?
Das absolute staatliche Recht erlitt schon früher einige Beschränkung. Man nahm insbe-
sondere an, dass der Staat sich über gewisse Privilegien, welche bestimmten Personen eine sichere
Rechtsstellung gewähren, nicht hinwegsetzen dürfe. Hiergegen hat allerdings die Staatsidee seit
dem 18. Jahrhundert sich gewehrt, und sie hat hier einen siegreichen Fortschritt zu verzeichnen: der
Staat lässt sich heutzutage durch derartige Rücksichten nicht mehr in seiner Gesetzgebung be-
schränken; er betrachtet es zwar als eine Ehrenpflicht, bestehende Rechte möglichst zu schonen,
doch ohne seiner Gesetzgebung bestimmte Schranken aufzuerlegen. Aber eine andere höhere Gewalt
sucht sich in der neueren Zeit über den Staat zu legen: es ist das überstaatliche oder Völkerrecht,
welches aus völl htlichen Betätigungen, insb dere aus Staatsverträgen entspringt; denn mehr
und mehr dringt die Überzeugung durch, dass solche Staatsverträge nicht bloss die Staaten gegen-
seitig binden, sondern auch den einzelnen Personen, für welche sie sorgen wollen, ein Recht gewähren,
das über der staatlichen Gesetzgebung steht und durch den Staat nicht angetastet werden kann.
Man kommt mehr und mehr zur Überzeugung, dass es völkerrechtliche Befugnisse gibt, die den
Einzelstaat nicht antasten darf. So muss auch die Souveränität des absoluten Staates vor höheren
Mächten kapitulieren.
Auf solche Weise wird auch hier der ewige Satz zur Wahrbeit, dass Gemeinschaft und Recht
mit einander in nächster Verbindung steht; diese Gemeinschaft wird in ihrer Gewalt lange Zeit
durch den Staat mehr oder minder absorbiert, aber immer werden neue Kräfte mächtig werden,
welche einen Teil der Rechtsschöpfung an sich ziehen. Auch bier denken wir die Hegelschen Ge-
danken weiter: ist der Staat zeitweise der Träger der Kultur, so werden doch immer wieder neue
Mächte erstehen, welche einen Teil der Rechtsbildung übernehmen. Denn alles ändert sich im
Wechsel der Kultur.