Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

150 Wilhelm van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen. 
  
Ungeachtet des häufigen Wechsels der Verfassungen ruht die Organisation des 
französischen Staates seit 1789 unverändert auf dem Prinzip der Volkssouveränität. Alle 
Organe des Staates, die Abgeordnetenkammer, wie der Senat und der Präsident, führen 
die ihnen zustehenden Machtbefugnisse auf Verleihung von seiten des Volkes zurück — die 
Abgeordnetenkammer direkt, die beiden anderen Organe indirekt. Jegliche Macht wird im 
Namen des Volkes ausgeübt, das demnach als Träger der Staatsgewalt erscheint. Jedoch 
ist nicht unmittelbar das Volk, sondern seine Vertretung zur Ausübung jener Macht berufen. 
Die Verteilung der einzelnen staatlichen Funktionen an die vorgenannten Staatsorgane 
erfolgte im allgemeinen auf der Grundlage der Montesquieu’schen Gewaltenteilung. Die 
gesetzgebende Gewalt wird von zwei Versammlungen, der Abgeordnetenkammer (Deputierten- 
kammer) und dem Senat geübt, deren übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse als Staatswillen 
gelten. Die erstere geht aus allgemeinen, gleichen und unmittelbaren Wahlen hervor; die 
Bedingungen der Wahlberechtigung und der Wählbarkeit sind für jeden Franzosen männ- 
lieben Geschlechts erfüllbar. Der Senat geht aus indirekten Wahlen hervor, und zwar werden 
seine Mitglieder von Wahlkollegien der Departements und der Kolonien gewählt, die aus 
den Deputierten, den General- und Arrondissementsräten und aus besonders bestellten 
Delegierten der Munizipalräte gebildet sind. Beide Körperschaften haben das Recht der 
Gesetzesinitiative; jedoch müssen Finanzgesetze zuerst der Deputiertenkammer vorgelegt und 
von ihr genehmigt werden, ehe sie an den Senat gelangen können. Zu bestimmten Zwecken, 
namentlich zur Beschlussfassung über Verfassungsänderungen und zur Präsidentenwahl treten 
beide Kammern zur „Nationalversammlung“ zusammen, der mit dem Rechte der Verfassungs- 
änderung die höchste Gewalt im Staate anvertraut ist. Dem Volke unmittelbar steht keine 
rechtliche Einwirkung auf die Beschlüsse der Nationalversammlung zu.®) Der auf sieben 
Jahre gewählte Präsident der Republik ist insbesondere das oberste Organ der vollziehenden 
Gewalt. In dieser Eigenschaft steht ihm namentlich die Ausfertigung und Ausführung der 
Gesetze, die Ausübung des Begnadigungsrechts, die Ernennung von Zivil- und Militär- 
beamten, die Verfügung über die bewaffnete Macht und die Wahrung der auswärtigen 
Beziehungen zu; zur Kriegserklärung bedarf er der vorherigen Zustimmung der beiden 
Kammern. Neben diesen exekutiven Befugnissen hat der Präsident aber auch gesetzgeberische 
Funktionen und zwar insbesondere — wenn wir von der Regulierung der Geschäfte der 
Kammern absehen — das Recht der Initiative für gewöhnliche Gesetze und für Verfassungs- 
revisionsgesetze, beides in gleicher Weise wie die Kammern, mit der Massgabe, dass diese 
zu einer Prüfung und weiteren geschäftlichen Behandlung der vorgelegten Entwürfe ver- 
pflichtet sind.®) Alle Regierungshandlungen des Präsidenten bedürfen der Gegenzeichnung 
eines Ministers, der hierfür. die Verantwortlichkeit übernimmt. Der Präsident selbst ist 
unverantwortlich, ausser im Falle des Hochverrats (Verletzung der Gesetze oder der Ver- 
fassung und Verrat des Staates an ein fremdes Land), in welchem Fall die Deputierten- 
kammer die Anklage zu führen und der Senat das Urteil zu sprechen hat.'%) Die Ver- 
antwortlichkeit der Minister findet ihr notwendiges Korrelat in deren Unabhängigkeit, einer- 
seits gegenüber dem Präsidenten, andererseits gegenüber den Kammern. Die Minister 
können sich jedem Versuche einer zwangsweisen Beeinflussung durch die Demission entziehen. 
Eine solche Demission kann aber auch von der Parlamentsmehrheit erzwungen werden mit 
der regelmässigen Folge, dass der vom Präsidenten neu zu ernennende Minister der Parlaments- 
majorität angehören muss. Es herrscht also das parlamentarische Regierungssystem. 9) 
Wesentlich komplizierter als bei der französischen Republik gestaltet sich das Bild 
der repräsentativen Demokratie in zusammengesctzten Staaten, wie es die Schweiz und die 
Vereinigten Staaten von Amerika sind. 
@°) Vgl. im einzelnen Lebon, S. 135ff. 
») Vgl. Lebon 8. 4lff. 
100) S, Lebon, S. 56ff. 
‚) S. Lebon, S. 30-32, Vgl. auoh oben S, 146.
	        
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