Wilhelm van Calker, Die staatlichen Horrschaftsformen. 151
Die nordamerikanische Union bietet die erste praktische Lösung der beiden, staats-
rechtlich und politisch gleich schwierigen, Probleme der „Herstellung einer Demokratie für
ein grosses Volk und Gebiet“ und der „Schaffung eines starken Gemeinwesens in der Form
des Bundes.“1®) Als Träger der Staatsgewalt der Vereinigten Staaten erscheint nach den
Eingangsworten der amerikanischen Verfassung von 1787 „the People of the United States“,
das ist die gesamte Bevölkerung sämtlicher amerikanischen Gliedstaaten. Die Gliedstaaten
haben jeder für sich ebenfalls wieder die demokratische Herrschaftsform, so dass die Ge-
samtverfassung durchaus dem Gedanken Montesquieu’s Rechnung trägt: „Der Bundesstaat
soll aus Staaten von derselben Natur, namentlich aus Republiken bestehen.“?®) Auch in
bezug auf die Verteilung der staatlichen Gewalten folgt die Verfassung der Union der
Lehre Montesquieu’s. Die gesetzgebende Gewalt ruht in der Hand des Kongresses,
der aus dem Hause der Repräsentanten und dem Senate besteht.) Die Mitglieder des
Repräsentantenhauses werden staatenweise nach näherer Vorschrift der einzelstaatlichen
Gesetzgebung je auf zwei Jahre vom Volke gewählt. „Die Wähler in jedem Staat brauchen
nur die Eigenschaften zu haben, die für die Wähler der zahlreichsten Kammer der gesetz-
gebenden Versammlung des Staates erforderlich sind.“ Der Senat besteht aus je zwei
enatoren aus jedem Gliedstaat, die von der gesetzgebenden Versammlung des betreffenden
Staates je auf sechs Jahre gewählt werden, ohne jedoch hierdurch etwa die Eigenschaft
von Delegataren ihres Staates zu erhalten. Jeder Senator hat eine Stimme und ist von jedweder
Weisung unabhängig. Die Wählbarkeit zum Senat ist an bestimmte, für jeden Staats-
angehörigen erfüllbare Bedingungen geknüpft. Präsident des Senats ist der Vizepräsident
der U.S. Der Senat hat, abgesehen von dem Recht der Mitwirkung bei der Gesetzgebung,
insbesondere die ausschliessliche Befugnis, bei politischen Anklagen des Repräsentauten-
hauses das Urteil zu fällen; bei Anklagen gegen den Präsidenten führt der Präsident des
obersten Bundesgerichts den Vorsitz... Die vollziehende Gewalt steht im wesentlichen
dem Präsidenten der Union zu, der ebenso wie der eventuell an seine Stelle tretende Vize-
präsident in indirekter Wahl auf je vier Jahre gewählt wird. Die Wahl geschieht durch
Wahlmänner, welche in jedem Staate in der gleichen Zahl, wie jeder Staat Mitglieder zum
Senat und zum Repräsentantenhause stellt, nach Landesrecht gewählt werden. Der Präsident
ist oberster Befehlshaber der Land- und Seestreitkräfte der Union, hat vorbehaltlich der
verfassungsmässigen Mitwirkung des Senats das Recht, Verträge mit anderen Staaten zu
schliessen und die Mehrzahl der Beamten zu ernennen, sorgt für den ordnungsgemässen
Vollzug der Gesetze, gibt dem Kongress von Zeit zu Zeit über die Lage der Union Aus-
kunft (Botschaften) und hat für bestimmte Fälle die Befugnis der Zusammenberufung und
der Vertagung der beiden Häuser des Kongresses. Das Recht der Kriegserklärung steht
ausschliesslich dem Kongresse zu. Der Einfluss des Präsidenten auf die Gesetzgebung be-
schränkt sich auf ein suspensives Veto, dessen Wirksamkeit durch qualifizierte Mehrheits-
beschlüsse beider Häuser aufgehoben werden kann, und auf die Befugnis, in der Form
von Botschaften, den Erlass von Gesetzen anzuregen. Die eigentliche Gesetzesinitiative
steht ausschliesslich den beiden Häusern des Kongresses zu.!®) — Die richterliche Gewalt
liegt in der Hand unabhängiger Gerichte.
102) Vgl. hieher und zum folgenden Seydel, Verfassung und Verfassungsgeschichte der Vereinigten
Staaten von Amerika, Abhandlgn., S. 32ff., ferner Otto Mayer, Republikanischer und monarchischer Bundes-
staat, Arch. f. öff. R. XVII, S. 337tf. (bes. S. 350ff).
103) Vgl. Montesquieu, der Geist der Gesetze, hgg. v. Ellissen, 1843, 9. Buch, 2. Kap.
104) Vgl. im einzelnen Rentner, Die Verfassung f. d. Ver. Staaten von Amerika, 1901, S. Slff.,v. Holst
a. a. O,, S. 14£f,
106) Seit etwa 20 Jahren besteht in den Ver. St. eine sehr einflussreiche Bewegung zu Gunsten der Ein-
führung der sog. direkten Gesetzgebung vermittelst der Initistive und des Referendums. In einer Reihe von Glied-
staaten (s. oben S, 149 Anm. 94) ist die indirekte Gesetzgebung schon eingeführt (vgl. George Iudson King, a.a.0.).