4dolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen. 159
lutistischen Wohlfahrtsstaates ein Rechtsstaat gesetzt. Den Forderungen eines Rechts-
staats kann sogut eine Monarchie, als eine Republik genügen ;'”) aber der Massstab bleibt dennoch
fest; denn er gilt für alle Völker und Zeiten, ohne Rücksicht auf Individualität und Kulturstufe.
In der ihr von Kant gegebenen Formulierung behielt die naturrechtliche Staatsauffassung noch
auf Jahrzehnte in Deutschland Vertreter, unter welchen als einer der bekanntesten Politiker von
Rotteck hervorragt.‘) Noch bis nahe unserer Zeit hat A hr e n s!°) eine Umbildung des Rechts-
staats, den Kultur-Rechtsstaat, der nicht bloss eine Schutzanstalt sei, sondern sich zugleich „‚posi-
tive allseitige Förderung aller gesellschaftlichen Lebensgebiete‘‘ zur Aufgabe mache, als einen
absoluten Massstab für die Beurteilung der Herrschaftsformen aufgestellt.
Im übrigen ist im 19. J.-H. eine relative Beurteilung der Herrschaftsformen vorherrschend.
Nur die sozialistische Staatsauffassung macht eine Ausnahme. Wirtschaftliche Gleich-
heit, nicht bloss politische, ist das Ziel der Sozialdemokratie. Die ältere Richtung war radikal kom-
munistisch. Über die organisatorische Verwirklichung war man begreiflicherweise im unklaren
und schwieg darum über sie.) Immer mehr macht diese Richtung einer gemässigteren Platz,
welche Menger als die sozialistische Gesellschaftsordnung im engeren Sinne bezeichnet. Nach
dieser sollen nur die Produktionsmittel gemeinsam sein, ein Erbrecht nicht gelten, während die
Genussmittel dem Einzelnen nach seiner Stellung in der Staats- und Arbeitsordnung und nach
der von ihm geleisteten Arbeit in ungleichem Masse zugeteilt werden.) Menger hält es für möglich,
den modernen Staat, den er als ‚‚individualistischen Machtstaat‘“ bezeichnet, durch allmähliche
Reformen zu einem „volkstümlichen Arbeitsstaat‘‘ umzubilden, dessen Rechtsordnung darauf ge-
richtet ist, den Interessen der grossen Massen zu dienen. Aus diesem Grunde vermag er in eine
Prüfung der hergebrachten Herrschaftsformen nach dem Masse des angenommenen wirtschaftlichen
Prinzipes der Gemeinsamkeit der Produktionsmittel oder der allgemein gleichen Erwerbsmöglich-
keit einzutreten. Die heutigen Republiken entsprechen ja diesem Prinzip keineswegs. Menger
sagt, namentlich im Hinblick auf die Revolutionen zugeneigten romanischen, dass sie ihre politische
Ruhe erst finden würden, wenn sie ausser der politischen Gleichstellung auch der wirtschaftlichen
bei sich Aufnahme gewährt hätten.?) Ebenso hält Menger in den Monarchien deren wirtschaft-
liche Umbildung unter Aufrechthaltung der Herrschaftsform möglich, wobei allerdings Hof, Heer
und Beamtentum eine gründliche Umgestaltung erfahren und den besitzlosen Volksklassen auch
innerhalb dieser Institutionen die entscheidende Macht eingeräumt werden müsste.
Da somit Menger die verschiedenen Herrschaftsformen der Verwirklichung der sozialistischen
Gesellschaftsordnung im engeren Sinne oder der gleichen Erwerbsmöglichkeit für alle, wie wir sagten,
für fähig hält, zeichnet er uns keinen Idealstaat, sondern gibt nur einen Massstab an, zu welchem
eine jede Herrschaftsform näher oder entfernter stehen kann. Demgemäss bezeichnet Menger selbst
diesen Massstab nicht etwa alsIdealstaat, sondern zutreffend bloss als ein Staatsideal.) Aber dieser
Massstab ist nach der sozialistischen Lehre so fest und unwandelbar für alle Völker und Zeiten, wie
das auch z.B. die philosophische Lehre vom Rechtsstaat für diesen in Anspruch genommen hatte.®®)
I. Relative Beurteilung der Herrschaftsformen.
In der Fähigkeit, nicht nur an einem unbeugsamen und absoluten Massstab die Herrschafts-
formen aller Völker und Zeiten messen zu wollen, sondern durch Aufstellung eines zwar auch ein-
heitlichen, aber beweglichen Massstabes dem Werden der Staaten gerecht zu werden, berührt sich
die klassische griechische Epoche mit der Neuzeit, erstere freilich nur in Aristoteles.
) Kant, Rechtslehre $ 44: „Der Regent des Staats ist diejenige moralische oder phy-
sische Person...
2) Rehm, "Allgemeine Staatslehre 248f.; Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissen-
schaft 3. Abt. 1. Hibbd. Text S. 508; G ierke, Althüsius 120 ff., 308 ff.
3%) Naturrecht, 1871, IT $ 116.
®) S. hierüber: Ziegler, die eehtigen ı und sozialen „uirömungen des 19. J.-H., S. 520.
21) Menger, Neue Staatslehre, III. 1906, S.
*) Menger, Neue Staatslehre 173; Er auch Du gu i ht, Etudes de droit public II 277: „legalits
politique conduira töt ou tard ä 1’ egalite &conomique.“
Menger, Neue Staatelehre S. 26 u. passim.
#a) Jellinek, Stastslehre, 341.