Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Horrschaftsformen. 161 
Für die Staatsorganisation gelangte der Umschwung in der Weltanschauung nicht nur zu 
theoretischer Bedeutung, sondern auch sogleich zu praktischer, indem das in der Revolution zurück- 
gewiesene Vorbild der englischen Verfassung in der konstitutionellen Monarchie 
bei der Restauration des bourbonischen Königtums in Frankreich Verwirklichung fand und bis 
hente das Muster für die Organisation der Kulturstaaten bildet. Da sich aber das englische Zwei- 
kammersystem, welches den Angelpunkt der kontinentalen Rezeption bildete, dort in ganz all- 
mählicher, fast unmerklicher Umbildung aus der ständischen Verfassung entwickelt hatte, so muss 
die Neuerung auch für den Kontinent, wo allenthalben die ständische Verfassung bis ins 16. und 
17. Jahrhundert bestanden und dann dem Absolutismus Platz gemacht hatte, gleichfalls als eine 
Wiederanknüpfung an die frühere geschichtliche Gestaltung angesehen werden. Der Grundsatz 
der Kontinuität der Entwicklung bietet das vornehmste Kennzeichen der Angemessenheit eines 
Rechtsinstituts für ein Volk und geniesst bis auf den heutigen Tag allgemeine Anerkennung, wobei 
besonders auch auf die neueren Kodifikationen des Straf- und Privatrechts hingewiesen werden kann. 
Aus diesem Grundsatz ergibt sich unmittelbar auch der Massstab, ler seit jener Reaktions- 
und Restaurationsperiode bis heute für die Beurteilung der Herrschaftsformen herrschend ist; 
es ist zu prüfen, ob eine Herrschaftsform für ein Volk nach seiner Individualität und nach seiner 
zeitlichen Kulturstufe passend sei. Das Auge darauf gerichtet, ob in einem gegebenen Staate die 
vorhandene Herrschaftsform bei ihrer Entstehung und bisherigen Entwicklung der Anschauung 
und Kultur der Nation entsprach, eine Frage, die regelmässig bejahend zu beantworten sein wird,®*) 
bleibt noch als zweiter Inhalt unseres Massstabes zu prüfen, ob seine Herrschaftsform auch im Ver- 
gleich mit der Entwicklung der übrigen Kulturstaaten diejenigen Neuerungen, wie sie da oder dort 
sich bereits durchgesetzt haben, in sich aufgenommen hat, welche dem Zustande jenes Staates 
zur vollen Entfaltung angemessen erscheinen. 
1. Dieälteren Herrschaftsformen. 
Legt man den Massstab der zeitlichen und sozialen Angemessenheit zunächst an die älteren 
Gestaltungen der Herrschaftsformen an, so wird auffallen, wie wir vermittelst seiner der Mannig- 
faltigkeit der früheren Entwicklung der Herrschaftsform in viel höherem Grade gerecht werden 
können, als die zeitgenössischen Schriftsteller. De Lehensmonarchie, die wir unter Karl 
dem Grossen in ihrer Blüte sehen, zeigt den Vorteil, in einer so wenig mit Verkehrsmitteln ausge- 
rüste en Zeit, wo man dazu allerorten im Reiche selbständiger und tatkräftiger Beamten und Heer- 
führer bedurfte, solche zu schaffen. Die spätere Entwicklung liess aber auch den Nachteil immer 
mehr hervortreten, dass nämlich die Einheit des grossen Reiches immer mehr an eigener Autorität 
einbüsste. Letztere eroberten sich die grossen und kleineren Fürsten des Reichs, aber immer mehr 
auch Ritter und Städte. So entwickelt sich dieständische Monarchie, in welcher Fürst 
und Stände als selbständige Rechtssubjekte ihre eigenen Rechte gegeneinander durchzusetzen 
suchen. Ein Vorteil war es, dass verschiedene Interessen miteinander rangen und zur Kraftan- 
spannung anspornten; in den Städten vor allem entwickelte sich das Bürgertum zu einem mit dem 
Adel konkurrierenden Faktor. Aber der Mangel eines grossen einheitlichen Zieles stellte sich her- 
aus; jeder Stand verfolgte seine Sonderinteressen; die Staatseinheit war aufgelöst ;2°) jeder einzelne 
Stand trat dem andern als öffentlichrechtliche Person gegenüber. Gemeinsames war nur auf Grund 
vertraglicher Einigung möglich. Ja das Recht der Kriegführung des einen gegen den anderen Stand 
wurde hie und da anerkannt. Jn England schliffen sich die divergierenden Stände allmählich zum 
repräsentativen Einheitsstaat ab. Dem Kontinent war die Erreichung desselben Zieles nur auf 
trachtung aus nach einem vorschwebenden Musterbilde den vollkommeneren selbst schaffen zu können. Für 
einen Wahn müssen wir dies ohne weiteres erklären.“ * 
2) Vgl.Hegel, Philosophie des Rechts, $ 273: „Es ist schlechthin wesentlich, dass die Verfassung, obgleich 
in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen werde; sie ist vielmehr das schlecht- 
bin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende, und als über der Sphäre dessen, was 
gemacht wird, zu betrachten ist.“ 
2) Jellinek, Stastelehre, 679 ff.; Tezner in Schmollers Forschungen, Bd. 19 Heft 3. 
Handbuch der Politik. 11. Auflaze. Band I.
	        
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