Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

168 Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen. 
  
Ihr mit einer grossen Majorität zurückkehrt, so müssen wir unzweifelhaft einräumen, dass Ihr mit 
Eurer Auslegung des Volkswillens recht habt, und wir werden Euch gestatten müssen, zu tun, was Ihr 
wollt.“ Eine auch rechtlich sich eigentümlich charakterisierende Übergangsstufe zur unmittelbaren 
Volksbeschlussfassung bilden die Konventionen;d.s. besonders gewählte Kammern, deren 
einzige Aufgabe die Entscheidung über eine Verfassungsänderung bildet. „Hier äussert das wählende 
Volk, ohne dass etwa ein imperatives Mandat bestünde, im Wahlakt selbst einen einheitlichen 
Willen, über eine bestimmte Frage.‘‘ Wenn man J ellinek“) in dieser Leugnung einer juristischen 
Bindung der Gewählten an die Meinung ihrer Wähler beitreten muss, so ist eine solche doch zweifellos 
in den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika, dem Lande der Konventionen, tatsächlich gegeben. 
Die Verwandtschaft mit dem Referendum zeigt sich dort auch darin, dass in den meisten nord- 
amerikanischen Staaten beliebig Wahl einer Konvention oder Referendum zum Zwecke einer Ver- 
fassungsänderung stattfinden kann.‘) 
Diese auf die Verfassungsgesetzgebung beschränkte, tatsächlich unmittelbare Beteiligung 
des Volkes an der Staatsregierung wird in Hinsicht auf die Gesetzgebung überhaupt ergänzt durch 
das Referendum, das wie in den Einzelstaaten der amerikanischen Union, so auch in der 
Schweiz in Anwendung steht. Bryce führt als Nachteile des Referendums an, dass es die Auto- 
rität und das Verantwortlichkeitsgefühl des Parlaments beeinträchtige, und dass es Gegenstände, 
die einer eindringlicheren Klärung durch Debatte bedürften, der Entscheidung derer unterbreite, 
die im Hinblick auf ihre Anzahl nicht zu einer auch beratenden Versammlung sich vereinigen können 
und von denen viele niemals über den Gegenstand nachgedacht hätten. Man könne darum ein- 
wenden, dass es richtiger sei, auf die Verbesserung des Parlaments hinzuwirken. Allein dieser Ein- 
wand sei für Amerika nicht stichhaltig, wo man an einer Besserung des Parlaments verzweifele; 
Parteidespotismus, Rücksicht auf Wiederwahl veranlassten dort die Mitglieder der gesetzgebenden 
Versammlungen bald dieser, bald jener Neuerung zuzustimmen.®) Sein Urteil fasst Bryce dahin zu- 
sammen, dass, wo Besserung der Parlamente erreichbar, diese vorzuziehen sei; dass dagegen wenn 
es unmöglich sei, Ober- und Unterhaus über das niedrige Niveau zu heben, auf dem sie in den Einzel- 
staaten der Union heute ständen, das System der direkten Volksgesetzgebung sich rechtfertige.°°) 
Ohne dass jene Skepsis gegenüber den Parlamenten am Platze, gilt das Referendum im Bund 
und den Kantonen der Schweiz seit Jahrzehnten. Die Urteile über seine Wirkung sind äusserst 
günstig. Das ist darum nicht verwunderlich, weil man in Gesetzgebung und soweit das Referendum 
nur fakultativ besteht, in der Praxis der Umständlichkeit des Verfahrens und der Eignung der 
Gegenstände für die Volksbeschlussfassung Rechnung trägt. Als hervorragendes Beispiel der gesetz- 
lichen Beschränkung seiner Anwendung ist darauf hinzuweisen, dass es für den Etat -- nach vorüber- 
gehender Geltung in den Kantonen Bern und Aargau — heute nirgends mehr vorkommt’:.) Die 
massvolle Verwendung des Referendums in ‘der Schweiz richtig einschätzend, gibt der Haupt- 
schriftsteller über das schweizerische Referendum, Theodor Cu rti, sein Urteil dahin ab: „Nicht 
zu unbedeutende Sachen soll das Referendum entscheiden, und wo man diese Institution auf grosse 
Staaten übertragen will, werden seiner Entscheidung wegen der Fülle der Bedürfnisse und Fragen 
manche Gegenstände entzogen werden müssen, die in der Schweiz mit ihren nur drei Millionen Ein- 
wohnern zu seiner Domäne gehören.‘”:) 
ie Bewährung des Referendums in der Union und in der Schweiz, seine Einführung in 
Kanada und Australien haben zur eingehenderen Untersuchung des Grundes seiner Bewährung an- 
geregt. Dabei hat man einerseits auf seine konservative Tendenz hingewiesen, die sich aber, wie die 
Praxis gelehrt, nirgends bis zur Übertreibung geäussert und Erstarrung der gesetzgeberischen 
Tätigkeit herbeigeführt habe.?*) Besonders für die Demokratie erscheint es daher als eine Steuerung 
#7) Staatslehre 574. 
®) Freund, Das öffentl. Rscht der Vereinigten Staaten von Amerika, 1911, S.11;s. auch Sidgwick 565. 
®) Bryce, 1 472ff. 
%) Bryce, I 476. 
%) Schollonbergpr, Staats- und Verwaltungsrecht der schweizerischen Kantone I 68. 
%) Curti, Die Resultate des Schweizerischen Referendums, 1911, 70. 
#) Jellinek, Verfassungsänderung u. Verfassuneswandlung. 1906. 106.
	        
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