Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Paul Eltzbacher, Der Anarchismus. 175 
  
schaft sich anbahnen: das europäische Eisenbahnnetz, die Gewerkschaften, die Arbeitgeberver- 
bünde und die Kartelle, die Gesellschaft für Rettung Schiffbrüchiger und das Rote Kreuz, dies 
und vieles Ähnliches liefert ihm den Beweis, dass dem Vertragsgedanken die Zukunft gehört und 
dass freie Vereinigungen alsbald alle Aufgaben des Staates übernehmen werden. Sehr anschaulich 
stellt er uns dar, wie sich in der künftigen Gesellschaft freie Gemeinden bilden und sich zu den ver- 
schiedensten Zwecken, z. B. zur Beschaffung von Lebensmitteln oder Maschinen, zum Strassenbau 
oder zur Landesverteidigung, ihrerseits wieder zusammenschliessen werden, und wie auf diese Weise 
ein unendlich dichtes, auf das mannigfaltigste verflochtenes Netz freier Verbände bestehen und alle 
Aufgaben des Staates weit vollkommener als dieser erfüllen wird. 
Nach Kropotkin wird die Entwicklung mit dem Staat auch das Privateigentum beseitigen 
und zwar ganz allgemein, nicht etwa nur an den Produktionsmitteln. Allenthalben sieht er die 
Völker unter dem Privateigentum leiden, in den unausgesetzt auf einander folgenden Wirtschafts- 
krisen, dem dauernden Elend der Massen erblickt er nur dessen Wirkungen, und er zweifelt nicht, 
dass die Menschen bald diese überlebte Form der Güterverteilung von sich werfen werden. Zugleich 
aber bemerkt er allenthalben einen kommunistischen Zug, in den öffentlichen Kunstsammlungen, 
Bibliotheken und Schulen und in zahlreichen anderen unentgeltlichen Einrichtungen, und so nimmt 
er an, dass die neue Gesellschaft nicht nur kollektivistisch, sondern kommunistisch sein wird, und 
dass in ihr wie die Mittel der Gütererzeugung so auch die blossen Gegenstände des Verbrauchs 
nicht dem Einzelnen gehören werden, sondern den freien Gemeinschaften, die sie dem Einzelnen nach 
Bedarf zur Verfügung stellen. Er malt uns aus, wie gern alsdann jeder im Dienste der Gemeinschaft 
arbeiten und wie leicht man sich über die Erzeugnisse der Arbeit einigen wird. 
Der neue Zustand wird auch nach Kropotkin durch eine soziale Revolution eintreten. Hr 
sieht eine Revolutionsperiode von mehreren Jahren voraus, die die Gesellschafts- und Güter- 
verhältnisse umgestalten, das Bestehende gewaltsam zerstören und das Neue an seine Stelle setzen 
wird. Diese Revolution wird zwar von selbst kommen, aber Aufgabe der fortgeschrittenen Geister 
ist es doch, sie vorzubereiten und zu beschleunigen. Das geeignetste Mittel zu diesem Zwecke er- 
blickt er in der „Propaganda der Tat‘, d. h. in Handlungen, die zugleich dem Widerspruch gegen 
das Bestehende Ausdruck geben, die Aufmerksamkeit auf die neuen Ideen lenken und den Geist 
der Empörung wecken. Eine Tat macht nach ihm mehr Propaganda, als tausend Broschüren. 
Von allen Vertretern des Anarchismus hat Kropotkin bei weitem die meisten Anhänger 
gefunden. Sein unbezwingbarer Glaube, seine rastlose und opferwillige Propaganda haben erst den 
Anarchismus zu einer grossen Bewegung gemacht. Eine Weiterentwicklung der anarchistischen 
Gedanken hat nach ihm nicht mehr stattgefunden. Die Entwicklungslinie, die von Proudhon 
über Bakunin zu ihm hinführt, schliesst mit ihm ab. 
4. 
Tolsto). 
Ganz abseits von dieser Entwicklung stehen die anarchistischen Gedanken, die der russische 
Dichter Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828&—1911) in zahlreichen Schriften nieder- 
gelegt hat, vor allem in den Werken Worin besteht mein Glaube ? (1884) und Das Reich Gottes ist 
in Euch (1893). Dem materialistischen Anarchismus Bakunins und Kropotkins tritt hier ein christ- 
licher, ihrem revolutionären Anarchismus sozusagen ein reaktionärer gegenüber. Wir werden wieder 
zu den Gedankengängen der ersten Anarchisten, Godwins und Stirners, zurückgeführt. Ohne sie 
zu kennen, hat Tolstoj ihre Ideen, freilich weit vollkommener, neu hervorgebracht und mit un- 
vergleichlicher Darstellungskraft vorgetragen. 
Tolstoj erblickt das höchste Gesetz für alles menschliche Verhalten in der Lehre Christi und 
zwar in dem Gebot der Liebe, aus dem er als wichtigste Folgerung den Grundsatz ableitet, unter 
keinen Umständen dem Übel mit Gewalt zu widerstreben. Der Staat verstösst nach ihm gegen 
diesen Grundsatz und damit gegen die Lehre Christi. Die Herrschaft in ihm beruht auf Gewalt, 
auf der Polizei und dem Heere. Sie bedeutet, dass die schlechten Menschen die guten unterdrücken, 
denn nur schlechte Menschen streben nach Macht, und der Besitz der Macht verdirbt auch die
	        
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