Paul Eltzbacher, Der Anarchismus. 179
Aber dadurch hat sich die Bedeutung des Staates in keiner Weise verringert. Der Staat hat
kaum eine seiner früheren Aufgaben aus der Hand gegeben, wohl aber eine Fülle von neuen über-
nommen. Man braucht nur an das mächtige Anwachsen der Heere und Flotten zu denken oder an das
ungeheure, in so kurzer Zeit errichtete Gebäude der Arbeiterversicherung. Die Steigerung der
staatlichen Aufgaben kommt deutlich zur Anschauung in den immer stärker wachsenden Steuer-
lasten, der Staat erhebt die Steuern nur, um sie für staatliche Zwecke zu verwenden. Dieses An-
wachsen der Staatstätigkeit ist durchaus im Sinne der öffentlichen Meinung: die sozialpolitische
Auffassung des Staates beherrscht heute die Völker, und selbst der Liberalismus, der ihr früher am
entschiedensten widerstrebte, hat sie sich aneignen müssen.
Dass ungeachtet des mächtigen Auwachsens der freien Vereinigungen der Staat immer
neue und grössere Aufgaben übernehmen konnte, beruht auf dem Fortschritt der Kultur. Der
Fortschritt der Kultur entzieht den Einzelnen immer mehr seiner Vereinzelung und verflicht sein
Leben enger und enger mit dem der anderen. Diese Verflechtung schafft immer neue Gebiete für
den freien Zusammenschluss, sie erweitert aber zugleich die Aufgaben des Staates.
Bei der Voraussage des naturwissenschaftlichen Anarchismus, der Gang der Entwicklung
werde den Staat demnächst notwendig zum Verschwinden bringen, ist der Wunsch der Vater
des Gedankens, ebenso wie bei der entgegengesetzten Voraussage des modernen „wissenschaftlichen“
Sozialismus. Die Sozialdemokratie möchte die Aufgaben des Staates ins Ungemessene steigern und
die gesamte Produktion in seine Hände legen, und um dem eine wissenschaftliche Grundlage zu
geben, deutet sie die gegenwärtige Entwicklung dahin, dass sie notwendig zu einer solchen Macht-
steigerung des Staates führen müsse. Der Anarchismus anderseits möchte den Staat beseitigt
sehen, und um dies wissenschaftlich zu begründen, gibt er der Entwicklung gerade die entgegen-
gesetzte Deutung.
Aber angenommen einmal, der Staat sei dem Untergang verfallen, die Entwicklung führe
mit unabwendbarer Notwendigkeit zu seiner Beseitigung, so würde hieraus doch in keiner Weise
folgen, dass wir diese Entwicklung zu fördern hätten. Es gibt erwünschte und unerwünschte Ent-
wicklungen: mit Recht trachten wir danach, jene zu fördern, diese aber aufzuhalten. Dem körper-
lichen und seelischen Wachstum eines Kindes suchen wir durch richtige Ernährung, Abhärtung und
gute Erziehung Vorschub zu leisten. Ein Greis dagegen bemüht sich, den Verfall seines Körpers und
Geistes durch Enthaltsamkeit, mässige Bewegung, ärztliche Überwachung nach Möglichkeit zu
verlangsamen. Selbst wenn die Entwicklung dahin ginge, den Staat zu beseitigen, so hätten wir ihr
doch nur dann Vorschub zu leisten, wenn wir annehmen müssten, dass der Staat etwas Schlechtes
und Schädliches wäre.
Die Begründung, mit welcher der naturwissenschaftliche Anarchismus Bakunins und Kro-
potkins dem Staate die Daseinsberechtigung abspricht, ist falsch. Wir haben keine Anzeichen dafür,
dass der Staat demnächst untergehen wird, und wenn es der Fall wäre, so hätten wir darum doch
keinen Grund, eine solche Entwickelung zu fördern.
8.
Kritik des ldeologischen Anarchismus.
Der ideologische Anarchismus, die Richtung Godwins, Stirners, Proudhons
und Tolstojs, nimmt an, dass der Staat schlecht sei und dass deshalb etwas Besseres an seine
Stelle gesetzt werden müsse: nach Proudhon ist dies ein System von freien vertraglichen Vereini-
gungen, nach Godwin, Stirner und Tolstoj ein Zusammenleben, das sich lediglich auf eine bestimmet
Gesinnung jedes Einzelnen gründet. Auch diese Lehre ist unrichtig.
Der Staat hat seine Mängel, daran ist nicht zu zweifeln. Gleichviel in wessen Händen die
höchste Gewalt ist, sie wird in der Regel nicht dem Würdigsten übertragen sein: in der Monarchie
muss man sich glücklich schätzen, wenn auf eine Reihe von schlechten oder mittelmässigen Herr-
schern dann und wann ein bedeutender folgt, und in der Republik, wenn die blinde, öffentliche
Meinung nach manchem zungenfertigen Demagogen auch einmal einen tüchtigen und ehrlichen Mann
auf den Schild erhebt. Die zahlreichen Menschen, denen im Staate ein grosses, kleines oder winziges
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