Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

188 Franz W. Jerusalem, Zentralisation und Dezentralisation der Verwaltang. 
  
gewalt zu sichern, wurde bestimmt, dass die General Orders, d. h. die Verordnungen für mehrere 
oder alle lokalen Armenbebörden (im Gegensatz zu den Partikular Orders für eine einzelne Behörde) 
im Reichsgesetzblatt, der London Gazette veröffentlicht und ausserdem dem Parlament vorgelegt 
werden müssen. Durch Order in Council, d. h. Königliche Verordnung können sie wieder aufgehoben 
werden. Davon abgesehen hat das Parlament es durch die Mitgliedschaft des Ministers des Innern 
an der parlamentarischen Regierung jederzeit in der Hand, jede Überschreitung der Verordnungs- 
gewalt auf einfachstem Wege, durch Interpellation im Parlament wieder rückgängig zu machen. 
Zum Überfluss stellt das Gesetz ausserdem jedem Staatsbürger frei, gegen Erlegung einer 
Kaution die Legalität einer Verordnung anzufechten. 
Auf Grund dieses Verordnungsrechtes hat die Zentralbehörde im Laufe der Zeit die ganze 
Armenverwaltung neu organisiert. Eine fast unübersehbare Menge von Vorschriften sind ergangen, 
welche die Lokalverwaltung im einzelnen regeln, und es ist nicht ohne Interesse, dass dieses Ver- 
ordnungsrecht so intensiv gehandhabt wird, dass den Lokalbehörden fast kaum ein freies Ermessen 
bei ihrer Verwaltung geblieben ist. Die Zeit der Nachtruhe in den Armenhäusern, die Menge der zu 
verabfolgenden Suppe an die Armenhäusler, ihre Zubereitung, die Art und Weise der Taufe von 
Kindern, die in Anstalten geboren sind, alles wird mit der grössten Genauigkeit vom Ministerium 
vorgeschrieben. 
Indem so die Zentralanmenbehörde durch Verordnungen unmittelbar in die Tätigkeit der 
lokalen Armenbehörden eingreift, bedarf sie selbstverständlich auch der Mittel, um diesen An- 
ordnungen Anerkennung und Nachachtung zu verschaffen. Das, was für kontinentale Anschauungen 
selbstverständlich und sich bereits ohne weiteres aus dem Gegensatze von Zentralgewalt und Lokal- 
behörde ergibt, ist es für englisches Denken durchaus nicht. Es schien ausgeschlossen, die Faktoren, 
die bis dahin die lokale Armenverwaltung als Träger einer absoluten Autonomie in Händen gehabt 
hatten, nun einfach insoweit dieser autonomen Befugnisse zu entkleiden und sie ihnen als „über- 
tragene“ Funktionen unmittelbarer Staatsorgane, wie das dem kontinentalen Denken völlig ge- 
läufig ist, zurückzugeben. Eine solche Delegation wäre umso einfacher gewesen, als durch die Re- 
form besondere Faktoren zur Durchführung des neuen Gesetzes geschaffen wurden, die man also 
von vornherein als unmittelbare Staatsorgane, als Delegierte des Local Government Board hätte 
einsetzen können. Das widersprach aber durchaus englischen Anschauungen; die neu ins Leben 
gerufenen Faktoren, denen die Durchführung des neuen Gesetzes übertragen wurde, waren vielmehr 
Repräsentativkörper, die sich auf Grund allgemeinen \ahlrechtes zusammensetzten. Den 
administrativen Gehorsam und die Tätigkeit der lokalen Verwaltungskörper in bestimmter Richtung 
nach dem Willen des Ministeriums auf anderem Wege zu sichern, war deshalb die der englischen 
Gesetzgebung gestellte Aufgabe, die sie nicht direkt, sondern auf einem Umwege löste. Die Lokal- 
armenpflege wurde nämlich ausschliesslich bezahltem Pflegepersonal übertragen, das den lokalen 
A ltungskörperschaften untersteht. Das Central Board behielt sich aber das Recht vor, 
die Anstellungsmodalitäten, die Qualifikationen und die ganze Dienstordnung für die Beamten durch 
Verordnung zu bestimmen, sowie ein Gehaltsschema und Pensionsvorschriften festzusetzen. Endlich 
erhielt das Ministerium unmittelbar das Recht, zuwiderhandelnde Beamte über den Kopf des Board 
of Guardians hinweg, welches sie bestellt hatte, zu entlassen. Damit ist auf einem Umwege die auf 
dem Festlande durch die Tatsache der Unterordnung der lokalen Behörden bedingte Gehorsams- 
pflicht auch in England gesichert. 
Nun gibt es aber Wirkungskreise der Lokalarmenämter, die von der Tätigkeit bezahlter 
Armenbeamten durchaus unberührt sind. Auch insoweit war es notwendig, die strikte Befolgung 
der Anweisungen der Zentralbehörde durch die Local Boards zu sichern. Um das zu erreichen, schuf 
die Gesetzgebung in langsamem Ausbau ein zweites eigenartiges Rechtsinstitut zum Zwecke wirk- 
samer Kontrolle der Lokalverwaltung; es war die Überwachung der Finanzgebarung der einzelnen 
Boards of Guardians. Auch in diesem Institut zeigt sich wieder die Tatsache, dass in England das 
Prinzip der völligen Dezentralisation der Verwaltung auch heute noch strikte anerkannt ist, von dem 
nur im Interesse der Aufgaben der modernen Verwaltung Ausnahmen zugelassen werden, die aber 
über das unumgänglich nötige nicht hinausgehen. Gewahrt blieb nämlich der verfassungsmässige 
Grundsatz, dass die Bewilligung und Beschaffung der erforderlichen Mittel zur Ausübung öffentlicher 
Gewalt vollständig Recht und Pflicht der in autonomen Körperschaften vertretenen Staatsbürger
	        
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