Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

198 Franz W. Jerusalem, Zentralisstion und Dezentralisation der Verwaltung. 
dagegen, obwohl es oft behauptet wird, Selbstverwaltung nicht mit Dezentralisation identisch. 
Das würde voraussetzen, dass hier der Absolutismus in ähnlicher Weise wie in Frankreich entwickelt 
wäre. Das ist aber, wie ein Blick auf die Verfassungsgeschichte Preussens beweist, durchaus nicht 
der Fall. Zu Beginn der modernen Zeit, um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts, war die Lokal- 
verwaltung zwischen Landesherm, Ritterschaft und autonomen Städten geteilt. Die Verwaltung 
des Landesherrn beschränkte sich auf den Domänenbesitz; sie war Domanialverwaltung. Die 
landesherrlichen Beamten, die die Bewirtschaftung der Domänen besorgten, erledigten zugleich 
die nicht sehr umfangreichen Geschäfte der Justiz und der Polizei. Soweit der Domanialbesitz nicht 
reichte, lagdie BesorgungderLLokalverwaltunginden HändenderRitterschaft, der es, wie im sonstigen 
Reichsgebiet, zum weitaus grössten Teil gelungen war, über das Gebiet ihres Rittergutcs hinaus 
Grund und Boden in ihre Abhängigkeit zu bringen und allmählich aus dieser eine obrigkeitliche Ge- 
walt zu eigenem Recht mit patrimonialer Gerichtsbarkeit, Polizei und Kirchengewalt zu machen. 
Endlich waren die Städte regelmässig Inhaber einer Autonomie, regelmässig allerdings nur innerhalb 
des Weichbildes; diese Autonomie verkörperte sich im Magistrat, an dessen Spitze in den grösseren 
und mittleren Städten ein Justiz- und ein Polizeibürgermeister stand. Die innere Verwaltung er- 
hielt nun ein völlig anderesBild, als der Grosse Kurfürst an die Schaffung eines stehenden Heeres ging. 
Ganz plötzlich machten sich jetzt eine ganze Reihe von neuen Verwaltungsbedürfnissen bemerkbar. 
Es musste für Proviant- und Getreidemagazine, für Werbung und Rekrutierung, für Remonten, 
Zeughäuser und Festungen gesorgt werden. Auch zur Erhebung der Steuern, die zur Unterhaltung 
des Heeres auferlegt wurden, die Akzise für die Städte, die Kontribution für das platte Land, waren 
Behörden erforderlich. Alle diese neuen Verwaltungsaufgaben wurden nun nicht von den bestehen- 
den Verwaltungsfaktoren wahrgenommen, es wurden vielmehr besondere landesherrliche Beamten 
ernannt, die Kommissarien, denen die beiden neuen Verwaltungszweige, die Militär- und die Steuer- 
verwaltung übertragen wurden. DieKommissariate, aus denen sich die moderne preussische Verwal- 
tungsorganisation entwickelt hat, hatten die Tendenz, ihre Tätigkeit über die Geschäfte der reinen 
Steuer- und Militärverwaltung hinaus zu erweitern. Durch Betätigung auf allen möglichen Ge- 
bieten der Verwaltung wurden sie allmählich zu Landespolizeibehörden. Naturgemäss mussten sie 
damit in Konflikt mit den bestehenden Verwaltungsfaktoren geraten, in deren Kompetenzen sie 
eingriffen. Die Autonomie der Städte wurde in der Tat aufs empfindlichste berührt, die 
landesherrliche Domänenverwaltung völlig zurückgedrängt. Nur auf dem platten Lande, wo 
gleichfalls für die einzelnen Kreise, an deren Spitze ständische Organe, die Landräte, standen, 
Kommissariate eingesetzt wurden, vermochte sich der bürgerliche Beamte des Landesherrn den 
adeligen Rittergutsbesitzern gegenüber nicht durchzusetzen; während das Kommissariat in den 
Städten die städtische Autonomie vernichtete und innerhalb des landesherrlichen Domanialbesitzes 
die Domänenbeamten zurückdrängte, verschwand es seinerseits in den Kreisen, ehe es noch rechte 
Wurzeln gefasst hatte. Seine Geschäfte wurden dem Landrat übertragen, der damit neben seiner 
Stellung als ständisches Organ zugleich Beauftragter des Landesherrn wurde. 
Das Landratsamtist auch heute noch alsderjenige Faktor anzusehen, derin Preussen kraft seiner 
Tradition und der politischen Bildung der Klasse, aus der er herkömmlich, vor allem im Osten der 
Monarchie, sich ergänzt, als Träger einer weitreichenden Dezentralisation möglich ist. Dem würde es 
entsprechen, wenn bei einer zukünftigen Reorganisation der Verwaltung gerade das Landratsamt zum 
Träger der geplanten Dezentralisation gemacht würde. Nach dem Masse der vorhandenen politischen 
Kräfte ist also zweifellos Dezentralisation ohne Selbstverwaltung in Preussen möglich und denkbar. 
Eine andere Frage ist es, ob vom politischen Standpunkt aus diese Lösung als richtig und wün- 
schenswert angesehen werden kann. Die Beantwortung dieser Frage wird naturgemäss je nach 
der Parteistellung des einzelnen, an den sie gerichtet ist, verschieden ausfallen.
	        
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