Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

200 Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland. 
  
sondern immer noch das Musterland höchstentwickelter Selbstverwaltung ist, während die anderen 
behaupten, dass die deutsche, insonderheit die preussische Gestaltung jenes Urbild längst über- 
flügelt habe. 
So der status causae et controversiae. 
Dieser Status ist deshalb so hoffnungslos, weil die Vertreter der verschiedenen Meinungen 
an einander vorbei argumentieren; und dafür wieder liegt der Grund, wie so oft, darin, dass die 
einen für eine logische Kategorie halten, was die andern als historische Kategorie erkennen. Das 
gilt hier nicht von dem Begriff der Selbstverwaltung an sich, wohlaber von dem Begriffdes „Staates“, 
an dem jener beständig gemessen wird. Und eben dieser Masstab ist die Ursache der ganzen Ver- 
wirrung; denn das, woran gemessen wird, ist keine fest bestimmte Grösse, vielmehr etwas weit vari- 
ableres, als das, was daran gemessen werden soll. 
So erklärt sich auch der tiefe Gegensatz, der schlechtweg als inkommensurabel erscheint, 
zwischen den englischen und den kontinentalen, insonderheit den deutschen Verhältnissen. In 
der Heimat des „selfgovernment“ bleibt jener ganze Kontroversenknäuel über den „Begriff der 
Selbstverwaltung“ vollständig unbegreiflich, wie man ja in der Heimat des parlamentarischen 
Konstitutionalismus manche fine fleur unseres konstitutionellen Staatsrechts, etwa die Lehre vom 
„Gesetz in materiellem und formellem Sinn“, nicht begreift; wie man in dem Weltreich, das die 
verschiedenartigsten Gemeinwesen in den mannigfachsten Eingliederungsverhältnissen umfasst, 
auch unsere dogmatischen Schmerzen wegen des Bundesstaatsbegriffs und des Wesensunterschiedes 
von „Staat“ und ‚Gemeinde‘ nicht versteht. 
Wort und Prinzip der heutigen deutschen Selbstverwaltung wurden in bewusster Anlehnung 
an das Wort und das Prinzip des englischen selfgovernment gebildet. Aber schon das Wort erfuhr 
in der Übertragung eine vermutlich unbewusste Einschränkung; denn „Verwaltung“ ist enger als 
„government“. Dem entspricht die Einschränkung des Prinzips und zwar eine qualitative Ein- 
schränkung. Beiden gemeinsam ist der Gegensatz zu der Beamtenregierung des absolutistischen 
Obrigkeitsstaates; völlig verschieden aber ist hüben und drüben die Austragung dieses Gegensatzes. 
In England hat eine in Jahrhunderten konstante Entwickelung das Prinzip des selfgovernment 
auf allen Stufen des Gemeinlebens völlig an die Stelle obrigkeitlicher Beamtenregierung gesetzt. 
Wie das nationale Gemeinwesen sich durch sein parlamentarisches Organ und dessen Mehrheits- 
ausschuss selbst regiert: national government, so regieren sich die kommunalen Gemeinwesen 
durch ihre Repräsentanten und deren Ausschüsse selbst: local government. Die technische Arbeit 
der Berufsbeamten, die stets erforderlich war und neuerdings in erweitertem Umfange erforderlich ist, 
wird in den Dienst der regierenden Politiker gestellt; der Berufsbeamte ist Techniker, nicht Obrigkeit 
— im Staat wie in der Gemeinde. Gewiss ist die kommunale Verwaltung in einem uns befremdenden 
Masse an Parlamentsakte gebunden; aber dasselbe gilt von der Staatsverwaltung. Es ist eine 
durchaus einheitliche Struktur. 
In vollem Gegensatz hierzu zeigt die deutsche Struktur das Bild eines ungelösten Dualismus. 
Das Prinzip des selfgovernment hat zwar in die obrigkeitliche Beamtenregierung manche Bresche 
gelegt in Gestalt des staatlichen Konstitutionalismus wie der kommunalen Selbstverwaltung; 
aber es hat sich keineswegs an ihre Stelle zu setzen vermocht, und zwar im Staate noch weniger 
als in der Gemeinde. Von einem „national selfgovernment“ ist trotz der konstitutionellen Ver- 
fassungen weder in den Einzelstaaten noch im Reiche zu reden. Dort steht die alte Obrigkeits- 
organisation der Beamtenhierarchie immer noch als „Regierung“ der „Volksvertretung‘“ nicht 
bloss selbständig, sondern trotz derabweichenden theoretischen Konstruktion als eigentliche Ver- 
körperung des „Staates“gegenüber. Und imReiche, wo die historische Tradition desalten Obrigkeits- 
staates fehlt, wird sie durch die verfassungsmässige Stellung der „verbündeten Regierungen“ er- 
setzt! Eben jene obrigkeitliche Beamtenregierung ist denn auch in Wahrheit der „Staat“, mit 
dessen „Wesen“ ein wirkliches local selfgovernment unvereinbar, und höchstens unter mannigfachen 
Reibungen eine beschränkte kommunale Selbstverwaltung zu verbinden ist. Daraus ergeben sich 
in der Praxis die ständigen Grenzverschiebungen zwischen staatlicher Aufsicht über die kommunale 
Tätigkeit und hierarchischer Subordination der kommunalen unter die staatlichen Verwaltungs- 
behörden. Daraus ergeben sich in der Theorie alle jene Probleme über das Wesen der Selbstver-
	        
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