308 Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.
St. O©. Ein solcher Entwurf wurde auch 1876 von der Regierung eingebracht, um „die unerlässliche
weitgreifende Umgestaltung mittels eines völlig neuen, die gesamte städtische Verfassung ein-
heitlich und übersichtlich regelnden Gesetzes herbeizuführen“, wie es in den Motiven heisst. Nicht
nur die Einordnung in das neue, von der Kreisverfassung beherrschte Behördensystem sollte
dadurch für die Städte erträglicher gestaltet, sondern auch der als unhaltbar anerkannte Zustand
der Geltung von etwa 20 verschiedenen Städte- und Landgemeinde-Ordnungen mit vielfach veralteten
Bestimmungen beseitigt werden. Der Entwurf scheiterte jedoch am Widerstande des Herren-
hauses; und damit haben sich alle jene Uebelstände bis heute unverändert erhalten.
Doch auch für das Prinzip der ganzen Reformgesetzgebung war die Konstruktion jener
Behörden von verhängnisvollster Bedeutung. Der ursprüngliche Grundgedanke dieser Reform
war der einer Dezentralisation der Staatsverwaltung durch Selbstverwaltung gewesen, das not-
wendig immer wiederkehrende SteinscheLeitmotiv. Dazu war die Organisation der höheren Kommu-
nalkörper, Kreis und Provinz, notwendige Voraussetzung; aber sie schuf doch nur die Formen, die
ihren Inhalt erst durch die Uebertragung der bisher vom Staatszentrum bureaukratisch geleiteten
inneren Landesverwaltung an die kommunalen Selbstverwaltungskörper erhalten sollten. Dem-
gemäss erwartete man auch noch bei Verabschiedung der Kr. O. ganz allgemein von dem Fort-
gange der Reform die Aufhebung des alten Hauptsitzes bureaukratischer Landesverwaltung, der
Bezirksregierungen, und die Aufteilung ihrer Zuständigkeit zwischen Kreis und Provinz. Mit der
Prov. O. trat jedoch eine bedeutsame Schwenkung ein. Die bureaukratische Bezirksinstanz wurde
konsolidiert; und ausser einigen Spezialangelegenheiten, die den Provinzialgemeinden zugewiesen
wurden, fand keine Dezentralisation durch kommunale Selbstverwaltung statt; vielmehr wurden
jene neuen, aus Berufs- und Ehrenbeamten gemischten Staatsbehörden gebildet, die man seitdem
ebenso hartnäckig wie falsch als „Selbstverwaltungsorgane“ bezeichnet. Dass man den Widersinn
dieser Bezeichnung jemals übersehen konnte, das erklärt sich aus der lange herrschenden und noch
heute nicht ganz ausgestorbenen, falschen Identifizierung der Verwaltung durch Ehrenämter
mit dem Begriff der Selbstverwaltung. Weil in jenen Kollegien auch Ehrenbeamte sitzen, verfiel
man in den Wahn, Behörden als Selbstverwaltungsorgane gelten zu lassen, die unter der Leitung
der eigentlichen Träger der Staatsbureaukratie stehen! Jene Identifizierung ergab sich aus der
Doktrin von dem Gegensatz zwischen „wirtschaftlicher“ und „obrigkeitlicher“ Selbstverwaltung
und diese Doktrin beruhte wiederum auf der Irrlehre, dass Kommunalverwaltung ihrer Natur nach
nur wirtschaftliche Verwaltung sei, während alle „obrigkeitliche‘“‘ Verwaltung begrifflich „staatlich“
sei. Diese Dogmatik war ein altes Erbstück des doktrinären Liberalismus und, gestützt
durch die wissenschaftliche und politische Autorität Gneists, noch so wirksam, dass sich der damals
einflussreiche Liberalismus auf die abschüssige Bahn dieser fälschlich s.g. „Selbstverwaltungs-
organisation‘ drängen liess. Allerdings forderte er programmatisch „eine Reform der staatlichen
Obrigkeitsverwaltung im Sinne der Selbstverwaltung‘‘ und daneben, wie man es gern ausdrückte,
„eine Verbindung der kommunalen Wirtschafts- mit der staatlichen Obrigkeitsverwaltung“.
Aber worin sollte das Wesen jener „obrigkeitlichen Selbstverwaltung‘ im Unterschiede von sonstiger
staatlicher Verwaltung denn bestehen, da man die Kommunalisierung der „obrigkeitlichen“
Funktionen als Widerspruch zum „wirtschaftlichen“ Charakter der Kommunalverwaltung ansah ?
Da blieb freilich kein anderer Anhaltspunkt als der Unterschied von besoldetem Berufs- und un-
besoldetem Ehrenamt. So entstand das Dogma: obrigkeitliche Selbstverwaltung ist die Verwaltung
von Staatsämtern durch unbesoldete Ehrenbeamte! Also ist der vom Oberpräsidenten ernannte,
dem Landrat subordinierte ländliche Polizeiverwalter, der Amtsvorsteher: Organ der Selbst-
verwaltung; und sogar die Verbindung mit der „wirtschaftlichen Kommunalverwaltung‘ ist durch
die Vorschlagsliste des Kreistages erfreulich hergestellt. Aber das gilt nur, falls sich ein unbesoldeter
Ebrenbeamter für den Posten findet; andernfalls kann der Oberpräsident auch einen besoldeten
Beamten hinsetzen; — und sofort hört dasselbe Amt auf, Organ der Selbstverwaltung zu sein!
Nach derselben Formel ist dann freilich der Provinzialrat zu 5/,, der Bezirksausschuss zu ®],
Selbstverwaltungsorgan; und die Verbindung mit der „wirtschaftlichen Kommunalverwaltung‘“
ist hier sogar durch Wahl der Selbstverwaltungs-Siebentel seitens des Prov.-Ausschusses hergestellt.
Aber ist es eine mögliche Vorstellung, dass ein und dieselbe Behörde zu einem gewissen Bruchteil