916 Hugo Preuss, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.
den Chef der Verwaltung sich gegenüber sieht. Aber dieser Vorteil wird wieder beseitigt, wenn der
Verwaltungschef zugleich Vorsitzender der Versammlung ist, die seine Verwaltung kontrollieren
soll. Diese Verbindung legt die Gefahr einer bureaukratischen Präfekturgewalt allerdings sehr nahe;
und sie paralysiert auch tatsächlich die formell alleinige Entscheidungsmacht, die das kommunale
Einkammersystem der bürgerschaftlichen Vertretung einräumt. Gegen die Möglichkeit, die Bürger-
meistereiverfassung im übrigen beizubehalten, aber dem Bürgermeister den Vorsitz der Stadtv.-
Vers. zu nehmen, wird geltend gemacht, dass seine Stellung dieser Versammlung gegenüber dadurch
eine allzu schwache würde; er wäre dann der Türkenkopffür alle Hiebe und Stösse. Gewiss ist auch
die Stellung der „Beigeordneten‘, der Stadträte innerhalb der Bürgermeistereiverfassung kaum
geeignet, selbständige Charaktere mit kräftiger Initiative zu befriedigen, und namentlich für das
bürgerliche Ehrenamt wenig verlockend. Hier bietet der kollegiale Magistrat unverkennbare
Vorzüge.
Unter diesen Umständen wäre es nur zweckmässig, die Entscheidung zwischen Rats- und
Bürgermeisterei-Verfassung der kommunalen Autonomie zu überlassen, die sie nach der besonderen
Natur der einzelnen Gemeinden treffen könnte. Diesen Weg wollte auch schon der preussische Ent-
wurf von 1876 einschlagen. Für die Grossstädte ist aber, falls sie die Ratsverfassung beibehalten
wollen, eine sehr wesentliche Verkleinerung der Magistratskollegien unentbehrlich,
indem sich deren Funktion zugleich auf die Gesamtleitung beschränkt und vom Detail der Ver-
waltungsgeschäfte entlastet. Dazu bedarf es einmal einer Veränderung in der Stellung der oberen
Verwaltungsämter ausserhalb der Magistrats, auf deren Besetzung den Stadtverordneten Einfluss
zu geben wäre, wie es gleichfalls der Entwurf von 1876 vorgesehen hatte; sodann aber und vor allem
der auch sonst dringend nötigen Lösung des Problems kommunaler Dezentrali-
sation. Der einzige Ansatz, der sich hierfür in den jetzt geltenden St.O. findet, das Amt des
Bezirksvorstehers, ist ziemlich verkümmert und für die heutigen grossstädtischen Verbältnisse
ganz unzulänglich. Auch die Bezirke müssen als Selbstverwaltungskörper, als Teilgemeinden im
Ralımen der Grossgemeinde organisiert werden, um die rein lokalen Angelegenheiten selbst zu ver-
walten, wozu sie einer gewählten Vertretung der Bezirksbürgerschaft bedürfen.
Die Gestaltung des Wahlrechts für die Vertretung der Bürgerschaft ist überaus
buntscheckig. Das Dreiklassensystem nach der direkten Steuerleistung, das zuerst in der
rheinischen Gem.O. v. 1845 erschien, gilt heute in allen preussischen Provinzen mit Ausnahme
Hannovers, Schleswig-Holsteins und der Stadt Frankfurt a. M., ferner in Baden und vielen
Rleinstaaten. Modifiziert ist es in Preussen für die Städte von mehr als 10 000 E. durch die Prin-
zipien des Durchschnitts oder des qualifizierten Durchschnittes oder der Zwölftelung nach
dem Ges. v. 30. Juni 1900. Sonst gilt das gleiche Wahlrecht, das jedoch in Schleswig-Holstein
und Frankfurt durch einen ortsstatutarisch zu normierenden Census beschränkt ist. Bayern hat
für die Gemeinden von über 4000 E., Württemberg für grosse und mittlere Städte das Proportional-
system. Die Wahl ist überall direkt; in Preussen ausser Frankfurt öffentlich, sonst fast überall
geheim. Das Hausbesitzerprivileg, das der preussische Entwurf von 1876 schon beseitigen wollte,
ist stehen geblieben. Die Weiterentwicklung des kommunalen Wahlrechts steht mit der staats-
politischen Gestaltung in unlöslichem Zusammenhange. Freilich ist die Meinung weit verbreitet,
dass mehr als in Staat und Reich sich in der Gemeinde das Wahlrecht den wirtschaftlichen Ver-
schiedenheiten und, als deren Exponenten, der Steuerleistung anpassen müsse. Indessen wurzelt
diese Meinung recht eigentlich in der oben kritisierten Anschauung von der Gemeinde als einem
wirtschaftlichen Verbande im Gegensatz zum politischen Staats- und Reichsverband. Wenn man
dagegen von der Wesensgleichheit der engeren und weiteren politischen Verbände, Gemeinden, Staat
und Reich ausgeht, kann man für eine Verschiedenheit in der Normierung der kommunal-, staats-
und reichspolitischen Bürgerrechte, die bei der ihnen gemeinsamen Repräsentativ-Verfassung im
Wahlrecht gipfeln, keinen anderen prinzipiellen Unterschied finden, als etwa einen solchen, der
sich aus der Verschiedenheit der Angehörigkeit zu jedem dieser Verbände ergibt.
Bürgermeister und Magistratsmitglieder (Stadträte, Senatoren usw.) gehen nach den meisten
G.O. aus der Wahl der Gemeinde-Vertretung hervor. In Hessen-Nassau werden die Bürger-
meister von den Stadtverordneten und den ehrenamtlichen Magistratsmitgliedern gemeinsam ge-