Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Emil Stutzer, Staatsbürgerliche Bildung und Erziehung. 249 
sierung würde die Wissenschaft herabgewürdigt und „politische Kinderlehre‘“ gehöre nicht in die 
Schule. Doch die Erziehung zu staatsbürgerlicher Bildung ward in den letzten Jahrzehnten immer 
nachdrücklicher in den verschiedensten Volkskreisen gefordert, und zwar besonders aus zwei 
Gründen, einem äusseren und einem inneren. Die Stellung Deutschlands nach aussen ist an und 
für sich schon infolge seiner geographischen Lage schwieriger zu behaupten als die anderer Welt- 
mächte, hat sich jedoch in der letzten Zeit so gestaltet, dass wir im Wettbewerb dieser Mächte ohne 
Betätigung staatsbürgerlicher Gesinnung nicht bestehen können. Nun gewinnt aber diejenige 
Partei immer mehr Einfluss, die sich gegen die bestehende Staatsordnung erklärt und in trefflicher 
Organisation mit ebensogrosser Rührigkeit wie Umsicht Anhänger wirbt. Das sozialdemokratische 
Unkraut droht den staatserhaltenden Weizen zu überwuchern. 
s Wegen dieser inneren und äusseren Verhältnisse ertönt jetzt laut und allgemein der Ruf 
nach besserer staatsbürgerlicher Erziehung, und 1909 ist eine eigene Vereinigung dafür gegründet 
worden. Wer die Jugend hat, hat die Zukunft — diese auch von den Sozialdemokraten erkannte 
Binsenwahrheit lässt die staatserhaltenden Kreise sehr viel von der Wirksamkeit der Schule er- 
hoffen, die schon der Begründer der neueren Pädagogik, Comenius (} 1670), für staatsbürgerliche 
Erziehung in Anspruch genommen und verantwortlich gemacht hat; im 18. Jahrhundert ist seine 
Forderung von verschiedenen Seiten und sehr nachdrücklich wiederholt worden. 
Jeder Schule stehen drei Wege der Einwirkung auf ihre Zöglinge zu Gebote. Der erste 
wendet sich an den Verstand: Durch Belehrung sucht die Schule eine Kenntnis der staatlichen 
Einrichtungen zu übermitteln, und diese Belehrung ist als Grundlage der staatsbürgerlichen Er- 
ziehung anzusehen, weil ohne Kenntnis kein Verständnis, ohne solches aber keine wahre Anhäng- 
lichkeit an den Staat möglich ist. Ein besonderes Lehrfach aber einzuführen, ist nicht angängig 
(abgesehen von Fach- und Fortbildungsschulen), schon aus Mangel an Zeit; vielmehr sind die 
bestehenden Unterrichtsfächer zu benutzen, um die Jugend in Staatskundel) zu belehren. In 
erster Linie kommt naturgemäss der Geschichtsunterricht in Betracht, der sich bisher schon zum 
Ziele setzte, eine Kenntnis auch der staatlichen Einrichtungen zu übermitteln, dieses Ziel allerdings 
aus verschiedenen Gründen nicht immer in der wünschenswerten Weise erreichte (in falscher Ver- 
allgemeinerung wird deshalb von manchen ‚der‘ Schule vorgeworfen, sie hätte in staatsbürger- 
licher Erziehung „überhaupt“ versagt). Er muss so getrieben werden, dass er Staatsbürgerkunde 
bietet, und diese muss so behandelt werden, dass sie Geschichtsunterricht bleıbt. Unter allen Um- 
ständen ist in jeder Schule die neueste deutsche Geschichte zu behandeln und scheinbar gelegent- 
lich, doch nach wohl durchdachtem Plane, möglichst konkret das Werden unserer Staatseinrich- 
tungen zu schildern. Jede Schule hat es als ihre Pflicht anzusehen, in den Zöglingen die Über- 
zeugung zu wecken und darin sie stets zu bestärken: der Staat, nächst der Kirche die wichtigste 
menschliche Gemeinschaft, eine „heilige Ordnung“, kann nur dann alle seine sehr mannigfaltigen 
Aufgaben lösen, wenn die Staatsbürger nicht allein ihre Rechte wahrnehmen, sondern auch ihre 
Pflichten treu erfilllen. Aus unvollkommenen Anfängen entstanden, entwickelt er sich allmählich 
zu immer grösserer Vollkommenheit; doch dürfen Änderungen nur vorsichtig getroffen werden, 
weil das Wohl und Wehe von Millionen auf dem Spiele steht. Deshalb hat der einzelne in seinen 
Wünschen sich zu bescheiden und oft Entsagung zu üben. Von einem vollkommenen Staate kann 
zu keiner Zeit die Rede sein, vielmehr sind gewisse Mängel unvermeidlich und müssen ohne Ver- 
drossenheit ertragen werden. Näher auf diese Mängel vor Schülern einzugehen, wäre deshalb ver- 
fehlt, weil dann der Lehrer seine parteipolitischen Ansichten zum Ausdruck bringen müsste. Statt 
dessen hat er nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Verfassung jedem Staatsbürger die 
Möglichkeit bietet, zur Verbesserung der Verhältnisse beizutragen, wenn er nämlich es als seine 
Pflicht betrachtet, sein Wahlrecht auszuüben. In den höheren Lehranstalten, namentlich in den 
Gymnasien, trägt der Unterricht einen so wesentlich historischen Charakter, dass er deshalb schon 
an und für sich für politische Bildung geeignet ist. Auf Übermittlung vieler Einzelheiten kommt 
ı) In der Schule handelt es sich hauptsächlich um die Kunde vom Staate. Da nun der Gegenstand, von 
dem man Kunde gibt, als Bestimmungswort zumeist verwendet wird (vgl. Heimatkunde, Vaterlandskunde), eo 
ist „Stastekunde“ der allein angemessene Ausdruck, nicht „Bürgerkunde“. Die meisten dieser auf Belehrung aus- 
gehenden Hilfsmittel bieten stofflich dasselbe, allerdings in sehr verachiedenem Umfange: nur die für die weitesten 
Kreise bestimmten und dabei durch ihre Darstellungsweise eigenartigen sind im Literaturverzeichnis angeführt
	        
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