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Ernst Müller- Meiningen, Vereins- und Versammlungsrecht.
9. Strenger als die öffentlichen Versammlungen in Lokalen behandelt auch das Reichsgesetz
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die Versammlungen imFreienunddieöffentlichenAufzüge ($7). Sie
bedürfen der Genehmigung der Polizeibehörde. Die Genehmigung ist von dem Veranstalter
mindestens 24 Stunden vor dem Beginne der Versammlung oder des Aufzugs unter An-
gabe des Ortes und der Zeit nachzusuchen. Sie ist schriftlich zu erteilen und darf nur
versagt werden, wenn aus der Abhaltung der Versammlung oder der Veranstaltung des
Aufzugs Gefabr für die öffentliche Sicherheit zu befürchten ist. Im Falle der Ver-
weigerung ist dem Veranstalter sofort ein kostenfreier Bescheid mit Angabe der Gründe
zu erteilen.
Aber auch hier hat der Reichstag wichtige praktische Durchbrechungen des Prin-
zips beschlossen, indem er ausdrücklich bestimmte, dass eine Versammlung, die in einem
geschlossenen Raum veranstaltet wird, nicht schon deshalb als Vers. unter freiem
Himmel anzusehen ist, weil ausserhalb des Vers.-Raumes befindliche Personen an der
Erörterung teilnehmen oder weil die Versammlung in einen mit dem Versammlungsraume
zusammenhängenden umfriedeten Hof oder Garten verlegt wird.
Und ferner bleibt es der Landeszentralbehörde überlassen, die Genehmigung ge-
nerell durch blosse Anzeige oder öffentliche Bekanntmachung zu ersetzen. Endlich ist
ausdrücklich ausgesprochen, dass gewöhnliche Leichenbegängnisse und hergebrachte Hoch-
zeitszüge der Anzeige oder Genehmigung überhaupt nicht bedürfen. .Die Befugnis der
Dispensation von Anzeige und Genehmigung ist der Landeszentralbehörde im weitesten
Sinne gegeben. Von ihr haben in den einzelstaatlichen Ausführungsbestimmungen die
Polizeibehörden auch schon mancherlei Gebrauch gemacht (z. B. für Kirmesszüge,
Studentenumzüge usw.).
. Auch die weitere Abwickelung der öffentlichen politischen Versammlungen regelt das
Gesetz, indem es vorschreibt, dass jede solche Versammlung einen Leiter haben muss.
Der Veranstalter kann die Leitung selbst übernehmen oder sie übertragen. Leiter oder
Veranstalter haben jedenfalls für Ruhe und Ordnung zu sorgen und das Recht, event.
die Versammlung für aufgelöst zu erklären. Die Polizeibehörde kann in jede öffentliche
Versammlung — ob politische oder unpolitische — Beauftragte entsenden. Sie haben sich
in dieser Eigenschaft dem Leiter oder Veranstalter vorzustellen. Dann ınuss ihnen ein
„angemessener Platz‘ eingeräumt werden. Ausdrücklich ist aber bestimmt, dass die Po-
lizeibehörde nicht mehr als zwei Beauftragte zu einer solchen öffentlichen Versammlung
entsenden darf.
Das Verbot des Waffentragens in Versammlungen hat sich auch in das Reichs-
gesetz hineingeflüchtet.
‚ Auch das Rechtder Auflösungder Versammlung durch die Polizei ist
im Gesetze genau und erschöpfend geregelt ($ 14).
Hervorzuheben ist hier ausser den Übertretungen des sog. „Sprachenparagraphen“
(s. unten) vor allem das Recht der Auflösung, „wenn in der Versammlung Anträge oder
Vorschläge erörtert werden, die eine Aufforderung oder Anreizung zu Verbrechen oder nicht
nur auf Antrag zu verfolgenden Vergehen enthalten“.
Ist eine Versammlung für aufgelöst erklärt worden, so hat die Polizeibehörde dem
Leiter der Versammlung die mit Tatsachen zu belegenden Gründe der Auflösung schriftlich
mitzuteilen, falls er dies binnen drei Tagen beantragt: Eine Bestimmung, die der Auf-
lösungswillkür der Polizeibehörden einen um so wirksameren Riegel vorschieben soll, als
die Anfechtung der Auflösung einer Versammlung dem Verwaltungsstreitverfahren
unterliegt.
Sobald eine Versammlung für aufgelöst erklärt ist, sind die Anwesenden ver-
pflichtet, sich fofort zu entfernen — selbst wenn die Auflösung später als ungerechtfertigt
erklärt wird: eine in der Praxis hart cmpfundene Entscheidung!