Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

  
Ernst Müller- Meiningen, Vereins- und Versammlungsrecht. 359 
12. Die erux des Gesetzes bildete in den Parlamentsverhandlungen der sog. Sprachen- 
[1 
u 
paragraph: 
Die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen sind darnach ($ 12) in deutscher 
Sprache zu führen: Ausnahmen sind ex lege für internationale Kongresse sowie auf Wahl- 
versammlungen für Reichstag und Landtag während der Wahlzeit vorgeschrieben. Hier 
kann also jederzeit ohne jede Anmeldung in fremder Sprache verhandelt werden. Die Zu- 
lässigkeit weiterer Ausnahmen regelt die Landesgesetzgebung. In Landesteilen mit min- 
destens 60%, alteingesessener Bevölkerung nichtdeutscher Muttersprache,2) ist in 
den ersten 20 Jahren (also bis 15. Mai 1928) der Mitgebrauch der nichtdeutschen 
Sprache gestattet, wenn der Veranstalter mindestens dreimal 24 Stunden vor dem Beginn 
der Versammlung der Polizei die Anzeige erstattet, dass und in welcher fremden Sprache 
die Verhandlungen geführt werden sollen. Weitere spezielle oder generelle Ausnahmen 
kann die Landesgesetzgebung wie die Landeszentralbehörde zulassen. 
Die leidenschaftlich bekämpfte, praktisch beiderseits überschätzte Bestimmung 
des $12 ist lediglich gegen die Polen gerichtet. 
Der $ 12 gilt übrigens für alle öffentlichen Versammlungen — gleichviel ob 
politische oder nicht politische. Die meisten Bundesstaaten haben ausdrücklich generell 
für die Gewerkschaftsverhandlungen des $ 6 Abs. 3 des Ges. den Gebrauch der nichtdeut- 
schen Sprache für zulässig erklärt, Preussen noch nicht. 
  
. Die Strafbestimmungen des Gesetzes ($ 18 u. $ 19) sind im Verhältnisse zu den 
bisherigen Gesetzen niedrig, meist Übeıtretungsstrafen (Geldstr. bis zu 150 Mk., an deren 
Stelle im Unvermögensfalle Haft), nur in vereinzelten Fällen ($19) Vergeheusstrafen (Geld- 
strafe bis 300 Mk. oder Haft). 
. Aufgehoben werden ausdrücklich durch das Gesetz $17 Abs.2 des Wahlges. vom 
31. Mei 1869, der $ 2 Abs. 2 des Einf.Ges. zum Str.G.B., soweit er sich auf die bes. Vor- 
schriften des Landesstrafrechts über Missbrauch des Vereins- u. Vers.-Rechts bezieht und 
der $6 Abs. 2 No. 2 des Einf.Ges. zur R.Str.Pr.O. Die sonstigen reichsgesetzlichen Vor- 
schriften über Vereine und Versammlungen (siehe oben) bleiben in Kraft (s. die aufge- 
hobenen landesrechtl. Vorschriften bei Dr. Müller a. a. O. S. 694 ffl.) Weiter bleiben in 
Kraft die oben bereits erwähnten Bestimmungen des Landesrechts über kirchliche u. 
relig. Vereine, über Prozessionen, Wallfahrten usw., sowie über geistliche Orden, die 
Vorschriften über die Versammlungen während des Belagerungszustandes u. bei Auf- 
ruhr, die Vorschriften über Verabredung ländlicher Arbeiter u. Dienstboten (s. Näheres 
oben), sowie zum Schutze der Feier der Sonntage und Festtage; jedoch sind für Sonntage, 
die nicht zugleich Festtage sind, Beschränkungen des Versammlungsrechts nur bis zur 
Beendigung des vormittägigen Hauptgottesdienstes zulässig. — 
Die Duschführung des Gesetzes machte bisher wesentliche Schwierigkeiten nur in 
Preussen, nachdem sich auch in Sachsen in den letzten Jahren die Praxis den neuen Grund- 
sätzen wesentlich anbequemt hat. — 
Das Reichsvereinsgesetz ist für absehbare Zeit nicht das Endziel der Ent- 
wickelung auf diesem wichtigstem Gebiete politischer Betätigung. Es ist aber un- 
zweifelhaft die wichtigste Etappe seit der Gesetzgebung des Jahres 1848: ein erfreu- 
licher Schritt der Schaffung einheitlichen Rechts und gesteigerter Garantie gegen 
polizeiliche Willkür und politische Chikane. 
2) Ein genaues Verzeichnis der betr. Bezirke wurde alsbald von der preussischen Regierung aufgestellt. 
17°
	        
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