268 Karl Bücher, Die Presse.
laufen sind; ja es gewöhnt sich daran, den gleichgiltigsten Dingen deshalb Bedeutung beizulegen,
weil sie unter den Telegrammen stehen.
Nur die grossen Zeitungen wissen sich und ihre Leser dieser alles verschlingenden Flut durch
Haltung eines Stabes guter Mitarbeiter und Korrespondenten zu entziehen. Sie halten auf Original-
mitteilungen und suchen es in der Raschheit, Vielseitigkeit und Zuverlässigkeit der Berichterstattung
den Agenturen zuvorzutun und wo nötig, sie zu kontrollieren und zu berichtigen. Vor allem aber
liegtihnen ob, an dem täglich fliessenden Nachrichtenstoff die rein geistige Arbeit zu leisten, welche
nötig ist, ihn den Lesern lebendig und verständlich zumachen. Hierzu bedürfen sie der Mitwirkung
zahlreicher sachkundiger Kräfte, die zum Teil der Redaktion eingegliedert werden, zum Teil in
freier Mitarbeit sich betätigen.
Der Verfassungsstaat der Gegenwart bedarf der Erörterung der öffentlichen Angelegenheiten
in der Presse als einer notwendigen Ergänzung der von Regierung und Volksvertretung geleisteten
Arbeit. Durch sie kann erst die Mitwirkung des ganzen Volkes, welche dem parlamentarischen
System als Leitmotiv zugrunde liegt, ohne je durch dieses allein verwirklicht werden zu können, zur
Wahrheit werden. Die Presse verbreitet Aufklärung über die obschwebenden Fragen der Gesetz-
gebung in weitesten Kreisen; sie lässt jede Art von Sachkunde zu Worte kommen und ermöglicht
dadurch die Berücksichtigung von Gesichtspunkten und Interessen, welche das parlamentarische
System für sich allein nie zur Geltung gebracht haben würde.
Man hat die Stellung, welche die Zeitungspresse der Regierung gegenüber einnimmt, mit dem
römischen Volkstribunat verglichen. Das ist nur in sehr beschränktem Masse richtig. Die Rolle
der Volkstribunen war eine einseitig negative; sie schützten den Plebejer gegen den Missbrauch
patrizischer Amtsgewalt. Die Rolle der modernen Zeitungen aber ist eine zweiseitige. Sie nehmen
ebensowohl die politischen Strömungen, welche von der Regierung ausgehen, auf, um sie auf die Masse
überzuleiten, wie sie die in den Volksmassen entstehenden Gegenströmungen zu den führenden
Kreisen zurückleiten. Aber sie haben keinerlei Interzessionsrecht ausser dem rein geistigen, wie es
durch die öffentliche Kritik von Regierungsmassnahmen gegeben ist.
Und weit über das Gebiet des staatlichen Lebens geht diese geistig vermittelnde Tätigkeit
der Presse hinaus. Auch in Kunst und Wissenschaft und in jeder Art sozialer Betätigung nimmt
sie die von hervorragenden Geistern ausgehenden Anstösse auf, um sie auf das ganze Volk überzu-
leiten, wie sie umgekehrt der massenpsychologischen Reaktion auf solche Einwirkungen zum Aus-
druck verhilft. Sofern sie den von der Masse ausgehenden Ideenströmungen Ausdruck und Richtung
gibt oder auf ihrem Grunde bestimmte Forderungen ausgestaltet, wird sie zur Trägerin der öffent-
lichen Meinung. Sie kann diese Meinung nicht schaffen ; aber sie kann sie sondieren und bearbeiten,
ihr Ziel und \Weg weisen; aber auch sie irreführen und korrumpieren. Das letztere insbesondere in-
folge ihrer Tag für Tag sich wiederholenden geistigen Einwirkung, die für jedes neue Vorkommnis
ein fertiges Urteil bietet, che der Leser noch Zeit gefunden hat, seine Bedeutung und Tragweite zu
überdenken. Die Zeitungsmeinung wirkt auf die Masse suggestiv wie alles Gedruckte, lähmt ihre
Urteilskraft und versetzt sie in einen Zustand, in dem sie willenlos sich führen lässt.
Allerdings ist die Presse zugleich Vermittlerin eines unermesslichen Kulturinhaltes, mit dem
sie die Kenntnisse ihrer Leser bereichert und sie aus der Enge ihres individuellen Daseins zu über-
schauender Höhe emporhebt. Sie bringt die Völker einander näher, lässt sie gegenseitig teilnebmen
an ihren Geschicken, mildert die zwischen ihnen bestehenden Gegensätze. Aber sie kann unter
Umständen auch genau das Gegenteil bewirken, wenn sie den Nationalhass schürt und bestehende
Spannungen erweitert. Dagegen wirkt sie ausserhalb der Kreise der Politik in eminentem Masse
kulturfördernd und kulturerhaltend. Keine neue wissenschaftliche Wahrheit, keine Erfindung oder
Entdeckung kann mehr verloren gehen, wenn sie einmal den Weg in die Presse gefunden hat.
Allerdings können die Kenntnisse, welche die Zeitung bietet, nur oberflächlich sein; sie müssen dem
Verständnis der Masse angepasst werden; sie geben in der Regel nur Anregungen. Aber schon darin
liegt ein grosser Segen, dass die Presse jeden nach seinen Vermögen an den Fortschritten der geistigen
Kultur teilnehmen lässt.
Ferner ist die volkswirtschaftliche Rolle der Presse nicht zu unterschätzen. Nicht nur, dass
sie in ihrem reich entwickelten Annoncenwesen Angebot und Nachfrage vermittelt und im täglichen