Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung. 951
2. DieAuslegung.?)
Der Richter ist des Gesetzes Diener. Das Gesetz zeigt seinen vollen Sinn erst bei der
Handhabung; es ist dann zuweilen klüger als der Gesetzgeber. Im Wesen des absoluten Staates
lag es freilich, diese Erkenntnis möglichst hintanzubalten; er verpflichtete deshalb bei zweifel-
haftem Sinne des Gesetzes den Richter zur Anfrage bei einer mit der Gesetzgebung befassten
Instanz (nach $$ 47, 48 der Einleitung zum preussischen Allgemeinen Landrecht: der Gesetzes-
kommission) und band ihn an deren Auffassung. Das kam in das 19. Jahrhundert nicht hin-
über, wenigstens nicht für Altpreussen.?)*) Selbständig vom Worte geht die Auslegung aus;
den Sinn aber hat sie zu erforschen, indem sie den Zusammenhängen in dem Gesetzgebungswerke
und des Gesetzes mit den Zeitverhältnissen nachgeht. Die verfeinerte Technik des Gesetzes, nament-
lich die mehr und mehr vervollkommnete Systematik, bietet wertvolle Anhaltspunkte. Die Schwie-
rigkeiten steigern sich jedoch auch mit den Fortschritten in der Abstraktion der Fassung oder sie
verringern sich nicht gerade. Die Auslegung des Gesetzes ist keineswegs bloss ein logisches Vor-
gehen; häufig genug ein teleologisches, das ethische und wirtschaftliche Momente berücksichtigen,
Interessen vielfältig abwägen muss. Auch eine Zeit, die sich mit grösserer Neigung einem Systeme
der „Hermeneutik‘“ zuwandte als die Gegenwart, hat uns hierfür wenig feste Massstäbe übermittelt.
Die ratio legis selbst ist nichts für alle Zeiten Festes: als die Brüsseler Antisklavereiakte (1890) die
Waffeneinfuhr nach Afrika in strenge Aufsicht nahm, geschah dies zum Schutze für die Eingeborenen
(gegen die Sklavenhändler); heute dient dieselbe Norm dem Schutze gegen die Eingeborenen (für
die Kolonisten). Der Wandel der Umstände, namentlich der organisatorischen Einrichtungen, kann,
muss eine gewandelte Auslegung erheischen: duplex interpretatio.#) So haben die Wendungen
„Inland“ und „Ausland‘‘ in unserer Gesetzgebung, seitdem wir Kolonien erworben haben, unver-
mittelt einen neuen, nicht immer ohne Schwierigkeit zu deutenden Sinn angenommen. Dahinein
könnte man auch die Beobachtung stellen, dass sich die Gegenwart gegen die Unfreiheit in der Aus-
legung auf ganzen Rechtsgebieten (Prozessgesetze) sträubt, wie sie noch vor einem Jahrzehnte
üblich war. Die sog. Materialien des Gesetzes, die Begründung, Denkschriften, Kammer-
verhandlungen, eröffnen zwar einen Weg zur Erkenntnis von Anlass und Zweck des Gesetzes. Man
wird ihnen aber nach den soeben gemachten Ausführungen nur einen sachlich wie zeitlich einge-
schränkten Einfluss einräumen dürfen. Die Rechtsprechung und die der Praxis dienenden Schriften
gehen in der Benutzung der Materialien oft zu weit.?
Ein bewährtes Mittel bei dem stark individuellen richterlichen Momente der Auslegung sind
die Rechtssprüche der obersten Gerichte (Vollsitzungen), die eine einheitliche Auslegung anbahnen ;
zu weit schon geht die Rücksicht auf die „Prüfungsergebnisse‘‘ des Reichsm litärgerichts.
Ein dauernder Zwiespalt der Meinungen über die Tragweite einer gesetzlichen Vorschrift
wird allerdings nur durch die sogenannte authentische Interpretation, d.h. durch einen neuen Aus-
Rufe, jetzt ist sie ein beliebtes Dissertations-Thema. Auch daraus lassen sich Schlüsse ziehen. Bedeutsam wird
uns immer bleiben jene Abhandlung von Planck (in Iherings Jahrb. 9 (1868) 288 fg.), der als Richter seine
Überzeugung ohne Scheu vor den Folgen in die Tat umsetzte. (Vgl. Frensdorff im Biographischen Jahr-
buch XV, 1913, S. 4.)
22) Die Verwendung, die das Völkerrecht bietet (Heilborn, Grundbegriffe des Völkerrechts 1912 $ 24)
wird leicht übersehen, nicht minder das Kirchenrecht (Scherer, Handbuch des Kirchenrechts, I 1885 $ 5).
2) Über Zeilers Anregung, ein Gerichtshof für bindende Rechtsauslegung, 1911 (ferner Rheinische
Zeitschrift für Zivil- u. Prozessrecht IV 1912 S. 367—414), wird man nicht ohne weiteres hinweggehen können;
Spiegel, Ge:etz u. Recht S. 100.
*) Ansätze: Gesetzentwurf Bassermann-Schiffer wegen Beschleunigung u. Vereinheitlichung
der Rechtspflege (Drucksachen des Reichstags 1912/13 Nr. 1219); Wunsch des deutschen Vertreters bei der
Haager Weltwechselrechtskonferenz (1912) nach einer Instanz zur Auslegung schwieriger Rechtsfragen (Nie-
meyers Zeitschrift 23 S. 421).
-) Vgl. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft S. 605. Ein Beispiel bei Fleischmann
(Abolition) im Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrecht,?2 I 52.
®*) In einem Prozesse R. contra Militärfiskus hat das Kammergericht am 5. Mai 1911 beschlossen, für die
Auslegung der $$ 36 des Versorgungsgesetzes mehrere an den Konimissionssitzungen beteiligt gewesene Abgeordnete
und Regierungsvertreter als Zeugen zu vernehmen.