282 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung.
spruch des Gesetzgebers selbst beseitigt werden können. Das ist keine Auslegung mehr, da der
Gesetzgeber das Ziel der Klärung der Rechtslage höher stellen darf, als das sorgsam prüfender Auf-
hellung des Gesetzeswortes, wofür eine gesetzgebende Versammlung auch der Eignung entbehrt.
Besondere Bestimmungen finden sich gelegentlich über die Auslegung der Verfassungs-
urkunde, indem sie einem Staatsgerichtshofe übertragen ist (Sachsen VU. $ 153, Oldenburg
Art. 209): „Der erteilte Ausspruch soll als authentische Interpretation angesehen und befolgt
werden“. Wo eine solche Behörde nicht besteht, würde Art. 76 Abs. 2 der Reichsverfassung zur
Anwendung kommen können, also äussersten Falles die Reichsgesetzgebung eingreifen.
Zweierlei bleibt für die Auslegung noch zu betonen:
a) Es gilt als Gesetz zwar nur der erklärte Wille des Gesetzgebers. Ist aber die Erklärung durch
offenbaren Irrtum beeinflusst (Redaktionsversehen),so überschreitet es nicht die Grenzen
der Auslegung, wenn dieser erkennbare Irrtum bei der Anwendung des Gesetzes berichtigt wird.?7).
b) Unverbindlich kann der Inhalt eines Gesetzes sein, soweit er in den Bereich eines überge-
ordneten Machthabers eingreift — nicht also, wenn ein Gesetz in Widerspruch zu völkerrecht-
licher Pflicht (Einwanderungsgesetzgebung!) träte — oder, soweit er unausführbar ist oder
geworden ist, oder nur Rechtswahrheiten wiedergibt*); in den letzten Fällen auch unschädlich.
Praktisch sind dies indes ganz vereinzelte Fälle, bei denen Zurückhaltung geboten ist:
Gesetzeswort, sie sollen lassen stahn!
3. Lücken der Gesetze.
Der Richter wirkt neben dem Gesetzgeber — adiuvandi et supplendi gratia — wenn
das Gesetz für einen Fall keine Bestimmung enthält. Es liegt in seinem Amte, jeden Streit zu
schlichten; es ist ausgeschlossen, dass er, weil das Gesetz keine Bestimmung enthielte, die
Entscheidung ablehne.?*) Wo die Auslegung, ausdehnende oder einschränkende, nicht hilft, muss
er einen Ausweg finden. Mit dieser Möglichkeit rechnen selbst die grossen Kodifikationen
um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, wiewohl die Aufklärungszeit sich in dem Gedanken
der Vollständigkeit der Gesetzgebung gefällt. Ausdrücklich weist das Allgemeine preussische
Landrecht $ 49 an: „Findet der Richter kein Gesetz, welches zur Entscheidung des streitigen Falles
dienen könnte, so muss er zwar nach den in dem Landrechte angenommenen allgemeinen Grund-
sätzen, und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen, seiner besten Einsicht
gemäss, erkennen. ($ 50. Er muss aber zugleich diesen vermeintlichen Mangel der Gesetze dem
Chef der Justiz sofort anzeigen)“. Die „Analogie‘‘ wird für den Richter hier den Ausgangspunkt
gewähren, die das Für und Wider abwägende Anlehnung an den gegebenen festen Punkt des Geset-
zes, mag diesauch ein Ausnahmegesetz sein, und mag er auchunterUmständen dazugelangen, positive
Sätze dadurch abzuändern, dass er ihnen eine Ausdehnung über den ausdrücklich geregelten Fall
binaus gibt. Freilich wird es nicht selten zweifelhaft sein, ob die Ähnlichkeit des Tatbestandes
so weit geht, dass sie eine analoge Anwendung der ursprünglich für diesen Tatbestand nicht auf-
gestellten Satzung rechtfertigt, oder ob nicht vielmehr die Satzung gerade jenen nicht gleichen,
sondern nur ähnlichen Fall auszuschliessen beabsichtigte (argumentum e contrario). Hier werden
sorgfältige und in die ratio legis nach allen Richtungen eindringende Abwägungen diejenige Linie
fortsetzen müssen, die schon für die Auslegung bestimmend sein musste. Scheidungen wie „Rechts-
analogie‘‘ und „Gesetzesanalogie“‘ können wenig fördern.
Die Analogie wird aber bei den komplizierten Verhältnissen des modernen Verkehrs gar
nicht immer genügen können; man vergleiche z. B. die Rechtsfälle, in denen eine positive Vertrags-
verletzung auftauchte, Garantievertrag, Scheckrecht, Luftschiffahrt, Ausbeutung der Rechtskraft,
Formalien des Verwaltungsstreitverfahrens, das fortgesetzte Verbrechen, Beweismittel im Disziplinar-
?) Andrer Meinung Binding Handbuch des Strafrechts I 461 (Literatur für und wider), dagegen jetzt
noch Brütt die Kunst der Rechtsanwendung 1907 S. 53.
*) Eisele im Archiv für die zivilistische Praxis 69 (1886) S.275—330, H ae nel, 8. 159—173; v.Mayr,
in der Festschrift zur Jahrhundertfeier des (österreichischen) Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs 1911, 1379 f.
3%) Code civil, art. 4: Le juge qui refusera de juger, sous prötexte du silence, de l’obscurit& ou de l’insuffi-
sance de laloi, pourra &tre poursuivi comme coupable de deni de justice, Zusatz 4a im Badischen Landrecht (1809),