286 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung.
Seite des Gesetzes. Die im 19. Jahrhundert zur Herrschaft kommende wissenschaftliche Richtung,
aie ihrer Zeit den Beruf zur Gesetzgebung absprach, schnitt den Faden ab, noch ehe sich die Frage
dufwer‘en konnte, inwieweit die Ergebnisee jener Erwägungen auf die Gesetzgebung einer konsti-
tutionellen Zeit ein- oder umzustellen wären. Erst die jüngste Zeit hat diesem Gegenstande wieder
Sorgfalt zugewendet, ersichtlich angespornt durch diegrossen Kodifikationen des privaten Rechtes.i2)
Unsere Zeit nimmt, sowohl was den Inhalt als die Form derGesetzgebung anlangt, erkennbar
ihren eigenen Standpunkt ein. Die Gesetzgebung ist eine „Kunst“, wie man sie mit einer glück-
lichen Wendung neuerlich wieder bezeichnet hat (Zitelmann). Sie kann so wenig wie jede
Kunst der Technik entraten.
1. Allgemeines (Inhalt).
Sachlich ist das Gefühl der Staatsallmacht nüchterner Betrachtung, um nicht zu sagen
bewusster Ablehnung gewichen. Die Grund- und Freiheitsrechte, der Stand der Selbstverwaltung
stehen dem entgegen. Auch hier liegt der Wendepunkt im Zeitalter der französischen Revolution.
„Le difficlle est de ne promulguer que des lois necessaires, de rester & jamais fidele & ce
principe vraiment constitutionel de la societe, de se mettre en garde contre la fureur de
gouverner, la plus funeste maladie des gouvernements modernes‘ — deutlicher, schärfer lässt
sich die neue Zeit kaum ankündigen, als es hier von dem älteren Mirabeau??) geschieht.
Gut deutsch fasst das einmalUhland in die Worte: Man hat sich nicht bloss vor der richter-
lichen Willkür zu hüten, sondern auch vor der legislatorischen.“ ) .
Die Dinge nehmen wirtschaftlich ihren Lauf zunächst, ohne dass sich der Gesetz-
geber um sie bekümmert; vorzeitiges Reglementieren kann sie aus der Bahn treiben, da die
verwickelten Zusammenhänge sich heute schwerlich von einer Stelle, und nicht gerade immer von
einer regierenden Stelle, aus übersehen lassen. „Bewegungen, die sich aus dem Leben der Völker
und der Gestaltung der Staaten ergeben, werden durch Gesetze weder geschaffen noch beseitigt.“
Mandarf diesen Satz, mit dem die erläuternden Bemerkungen zu dem Ent wurfe eines österreichischen
Auswanderungsgesetzes (1913) beginnen, sehr wohl aus ihrem sachlich engeren Zusammenhange
heben. Gesetzliche Eingriffe in das Gebiet des Geistes oder des Gewissens haben ihre scharfe Kante,
zumal in einem Staate mit religiös gemischter Bevölkerung. Ein gesetzgeberischer Schritt aber
schwankend und zurück getan, geht wider das Ansehen des Staates. Der moderne Staat bedient
sich deshalb seiner an sich unbegrenzten Gewalt mit Mass. Er soll nicht weiter eingreifen, als er zum
Wohle der Allgemeinheit glaubt zu einer Rechtssatzung genötigt zu sein, also erst, wofern andere
zwingende Einflüsse, wie Sitte, Religion, Kunstsinn usw. nicht wirksam genug erscheinen. Gewalt,
wie sie im Gesetze liegt, muss nutzbringende Gewalt sein, die sich durch höheren Zweck rechtfertigt.
Solche Nötigung besteht ja vielfach genug, namentlich aber da, wo ohne ein Gesetz widerstreitende
wirtschaftliche oder auch geistig kulturelle Interessen den von höherer Warte aus notwendigen
Ausgleich sonst nicht finden würden (soziale Missstände), oder wo Unsicherheit in die rechtlichen
Grundlagen (Tarifvertrag, Kartelle, früher Scheck) oder unausgleichbare Verschiedenheit in der
Rechtsprechung zur Rechtsgefährdung führt. Oder wo der Gesetzgeber das politische Band durch
das Rechtsband festigen will (Einführung der Militärgesetzgebung nach Art. 61 der Reichsver-
von der „Kunst der Rechtsprechung“ (1900); Ransson, essai sur l’art de juger®, 1912; ferner Brütt, E. J.
Bekker (S. 194); Rumpf, Volk und Recht 1910; Finger behandelt ‚‚die Kunst des Rechtsanwalts‘“, 1912.
4) Vgl. den Vorstoss von Eugen Huber (Bern), Über die Realien der Gesetzgebung (Zeitschrift für
Rechtsphilosophie 1913). In Österreich: Bericht der Kommission für Justizgegenstände über die Gesetzesvorlage
betr. die Änderung . ... . des Allgem. Bürgerl. Gesetzbuchs, 78. Beilage zu den Stenogr. Protokollen des Herren-
hauses 21, Session, 1912 S. 4—8, 204 (diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen, Herrn Dr. Peter Klein).
Geny, la technique lögislative (in Le code civil 1804/1904, livre du cent6naire II 1905).
”) Sur leducation publigue p. 69. Das Wort stellt Cauer (1851) seiner Ausgabe von
W. v. Humboldts Ideen zu einem Versuche, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen
(1792) voran. Humboldt beruft sich wiederholt auf Mirabeaus Schriften, sodass Edmond Villey (du röle
de l’6tat dans l’ordre doonomique, 1882, Titelblatt) das Wort — W. v. Humboldt zuschreibt.
#4) Erwähnt bei Reinöhl, in Wahls Beiträgen zur Parteigeschichte IT 1911 S. 159.