290 Max Fleischmann, Die materielle Gesetzgebung.
den allgemeinen Grundsätzen des Strafgesetzbuches und den Sonderbestimmungen der strafrecht-
lichen Nebengesetze fehle, überall werde das Gleichmass der Strafdrohung verletzt; ratlos stünde
dem Wissenschaft und Rechtsprechung gegenüber (Systematische Rechtswissenschaft in Hinneberg
„Kultur der Gegenwart‘ 1906 $. 211). Das gibt zu denken, mag es auch also bedenklich nicht
(mehr) sein.
Für die Formulierung des Gesetzes‘) ist oberste Anforderung: Das Gesetz muss aus
sich heraus verständlich sein für denjenigen, an den essich wendet; es muss den gesetzgeberischen
Willen zu verständlichem Ausdrucke bringen. Hier zeigt sich das künstlerische Moment. Keincswegs
bloss in der Sprache, sondern schon in der Zuteilung einer Materie in dieses oder jenes Gesetz (for-
melles Recht, materielles Recht) undim Aufbau innerhalb des Gesetzes (allgemeiner Teil — besonderer
Teil). Die Gegenwart ist durch die Vorarbeit der Wissenschaft an ein hohes Mass durchdachter
Systematik gewöhnt, die den Rechtsgedanken schärfer abgrenzt, und sie ist nicht geneigt, die An-
sprüche gegenüber dem Gesetze herabzusetzen. Sie verlangt nicht minder eine technisch klare
Anreihung; eine Novellengesetzgebung, wie sie z. B. die Gewerbeordnung verunstaltet, wird als
grober gesetzestechnischer Mangel empfunden. Freilich ist ein Gesetzbuch kein Lehrbuch. Es darf
sich nicht mit unverbindlichem Inhalte belasten. Keine Kunst lehrt — sie gestaltet: So ist es auch
nicht Sache des Gesetzes, dogmatisch zu definieren, es hat zu dekretieren.
Gesetze sollen eine gemessene Sprache reden, kurz und bündig.) Frühere Zeit beliebte die
imperative Form; sie ist durch eine apodiktische (Präsens) oder hypothetische Formulierung abge-
löst. Gesetze sollen alles, was sie zu sagen haben, auch selbst sagen. Verweisungen auf andere
Gesetzesstellen sind mit Vorsicht anzuwenden: Verweisungen innerhalb desselben Gesetzes schon
aus ästhetischen Gründen; Verweisungen auf ein bestimmtes anderes Gesetz, da esim neuen Gefüge
neuen, ungeahnten Sinn entwicke'n, aber auch zu einem Sonderleben erstarren kann, während es
draussen sich wandelt; Verweisungen auf einen ganzen Komplex von Sätzen in ihrem jeweiligen
Bestande, da solche automatische Ergänzung in der Tragweite kaum übersehen werden kann.
Manche Kürze ist dadurch herbeigeführt worden auf Kosten des klaren gesetzgeberischen Gedankens
(z. B. beim Schutzgebietsgesetz). Gesetze sollen keine Lücken lassen; zuweilen ist es ein Armuts-
zeugnis für den Gesetzgeber und die Schärfe seines Denkens, wenn er gewisse Fragen der Wissen-
schaft und der Praxis zur Lösung zuweist. Nur ein Ausweichen ist oft — und dann abzulehnen —
die Weitmaschigkeit, sog. Kautschukparagraphen, oder die Verwendung sog. Ventilbegriffe.st)
Aber kein Wort auch zu viel! Die Auslegung heftet sich daran; ein Wort, eine Gefahr. Durchdachte
Regelung wird zu abstrakter Formulierung führen. Abstrakte Form ist die höhere Stufe gegenüber
einer bequemen Kasuistik, die nur die Hauptfälle erfasst, die dem Gesetzgeber gerade liegen, die
lung dieser lange genug vernachlässigten Frage ist im Aufblühen: Kleinfeller, Gesetz und Sprache (im
Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie VI, 1913 S. 269—274). Einem Preisausschreiben des Deutschen
Sprachvereins verdanken wir die (nicht in jeder Hinsicht Zustimmung verdienenden) Schriften über ‚‚Unsere Ge-
setzessprache“ von Fiekol(Lehrer, RennerundP.Sommer (zuerst in den ‚‚Grenzboten“), sämtlich 1912.
Über volkstümliche Geset heK.Schneider, Jastrow in,,‚Rechtund Wirtschaft‘ II, 1913S.129, 180.
%) Montesquieu, Esprit des lois, Buch 29 (besonderes Kap. 16); Courtenay Ilbert, Legis-
lative methods and forms, 1901. Ein Runderlass des Reichskolonialamts vom 4. Mai 1908 (Kolonialgesetzgebung
XII 168) sucht allgemeine Grundsätze für die Abfassung von Verordnungen aufzustellen ; das verdient Beachtung.
55) Legem brevem esse oportet — ist zum Sprichwort geworden, von dem der Ursprung sich in der Zeit
verlor! Svarcoz, Inwiefern müssen Gesetze kurzsein ? (Vgl. Stölzel S.183, 225). Über, ‚Simplizität‘‘ der Gesetze
äussertsich . B.Eberh. r. Rochow, der Vater des preussischen Volksschulwesens, in der Deutschen Monats-
schrift 1790 (Abdruck in seinen pädagogischen Schriften, herausgegeben von Jonas u. Wienecke II 1908 S. 112 f.)
}berhaupt werden solche Anforderungen im Rahmen der Bestrebungen der Aufklärungszeit nach Unterricht in
der Rechtskunde wiederholt gestellt (vgl. Fleischmann, Frühzeit der Bürgerkunde, 1913).
6%) Die „analytische Vereinfachung des Tatbestandes“ (Ihering, Geist des römischen Rechte 3, 13 $ 55),
die im BGB. auf eine Verteilung oder Andeutung, auch Verschiebung der Beweislast hinausläuft, braucht nicht
als der Höhepunkt gesetzgoberischer Kunst angesehen zu werden. Allgemein über die technische Behandlung
des Stoffe Knoke in Plancks Kommentar zum Bürgerl. Gesetzbuch‘ I. 1913 S. XLVI. fg.
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