Paul Schoen, Die formellen Gesetze. 295
Normen abändern wollen, die ein formelles Gesetz aufgestellt hat; im übrigen genügt fürsiedie Form
der Verordnung. Der Staatk ann natürlich auch Willenserklärungen, die keine Rechtsvorschriften
enthalten, im formellen Gesetze abgeben, denn in der Form des Gesetzes kann eben jede staat-
liche Willenserklärung abgegeben werden, die etwas ordnen und regeln will.Zum Erlasse von Rechts-
vorschriften im Wege der Verordnung ist die Regierung nur befugt, wenn ein formelles Gesetz sie
dazu ermächtigt.
. In dem deutschen Reiche als einem Bundesstaate köunen sowohl die Einzelstaaten wie
der Gesamtstaat Gesetze erlassen, und daraus entsteht eine zweite Kompetenzfrage, die Frage:
wanneinReichsgesetzundwanneinLandesgesetzd.h. ein Gesetz des Einzel-
staateserlassen werdenmussbezw.kann ; sie deckt sich mit der Frage, wieweit das
Reich und wieweit die Einzelstasten überhaupt zur Rechtssetzung kompetent sind, denn soweit
die beiderseitige Gesetzgebungsbefugnis reicht, reicht auch sachlich das beiderseitige Verordnungs-
recht. Die Antwort auf diese Frage ist zu entnehmen aus Art. 2 derR.Verf., welcher sagt: „Innerhalb
dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Massgabe des Inhalts dieser
Verfassung und mit der Wirkung aus, dass die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen.“ Danach
ist das Reich befugt, gegenständlich Gesetze zu erlassen, soweit nach dem Inhalte der Verf. seine
Kompetenz reicht, also nicht nur soweit ihm durch Bestimmungen dieser, wie besonders durch
Art. 4, eine Gesetzgebungskompetenz ausdrücklich beigelegt ist, sondern darüber hinaus, soweit
nach dem ganzen Inhalte der R.Verf. eine Angelegenheit als Reichs- und nicht als Landessache er-
scheint; das Reich kann daher die Organisation, die Amtsbefugnisse und Pflichten seiner Behörden,
die rechtliche Stellung seiner Beamten, die Verwaltung der Reichsanstalten, die Rechtslage der
Schutzgebiete und anderes durch Reichsgesetze ordnen, ohne dass eine Verfassungsklausel es zu
dieser Gesetzgebung ermächtigt. Nun folgt aber daraus, dass eine Angelegenheit in die Gesetz-
gebungskompetenz des Reiches fällt, an sich noch nicht, dass sie der der Einzelstaaten entzogen
ist. Eine ausschliessliche ist die Gesetzgebungskompetenz des Reiches nur: a) da, wo die Verfassung
sie ausdrücklich für eine solche erklärt hat, wie z. B. bezüglich des gesamten Zollwesens
und der Besteuerung gewisser im Bundesgebiete gewonnener Produkte (Art. 35, 40), gewisser
Teile der Post- und Telegraphengesetzgebung (Art. 52 Abs. 2, 3), der Militärgesetzgebung
(Art. 61), und b) hinsichtlich der Gegenstände, die ihrer Natur nach nicht der Machtsphäre
eines Einzelstaates unterstehen, wie das Konsulatswesen (Art. 56), die Kriegsmarine (Art. 53),
die Reichspost und Telegraphie, soweit sie eine Reichsanstalt ist (Art. 48—52, vgl. 52
Abs. 1), das Reichsland, die Schutzgebiete u. a. Über diese der Reichsgesetzgebung aus-
schliesslich vorbehaltenen Angelegenheiten hinaus besteht, soweit die Gesetzgebungskompetenz
des Reiches reicht, neben dieser die der Einzelstaaten, jedoch nur solange, als das Reich die betref-
fende Angelegenheit nicht reichsgesetzlich geordnet hat. Sobald das Reich von seiner Gesetzgebungs-
befugnis Gebrauch macht, zessiert die Gesetzgebungsbefugnis der Einzelstaaten, und zwar in dem
Umfange, in welchem der Reichsgesetzgeber sie beseitigen will. Geht seine Absicht dahin, mit dem
von ihm erlassenen Gesetze eine Materie erschöpfend zu regeln, so ist in dieser Materie für eine Lan-
desgesetzgebung überhaupt kein Raum mehr, selbst wenn die reichsgesetzliche Regelung sich als
eine lückenhafte erweist. Hat dagegen der Reichsgesetzgeber erweislich nicht diese Absicht gehabt,
so können noch Landesgesetze zur Ergänzung des Reichsgesetzes erlassen werden. Bestehende
Landesgesetze, die einem neu erlassenen Reichsgesetze widersprechen oder sich inhaltlich mit ihm
decken, treten mit dessen Erlass ohne weiteres ausser Kraft. Zeitlich nach einem Reichsgesetze
erlassene Landesgesetze, die ihm widersprechen oder es wiederholen, sind von Anfang an nichtig.
Dasselbe gilt von Landesgesetzen, die Reichsgesetze auslegen oder erläutern wollen.
Soweit nach dem Vorangehenden eine Gesetzgebungskompetenz des Reiches nicht begründet
ist, besteht die ausschliessliche ‚Gesetzgebungskompetenz der Einzelstaaten.
Reichsregierung undeeiner Landesregierung
über den Fortbestand oder die Zulässigkeit einer landesgesetzlichen Bestimmung, so hat der Bundes-
rat auf Grund des Art. 7 Ziff. 3 R.Verf. darüber zu beschliessen. Im einzelnen Anwendungsfalle hat
der Richter zu prüfen, ob ein Landesgesetz mit Reichsgesetzen im Widerspruche steht, und be-
jahenden Falles jenem die Anwendung zu versagen.