18 Fritz Berolzheimer, Methodik und Abgrenzung der Politik.
4. Politik und Moral.
Wäre Politik gleichbedeutend mit Staatsklugheits lehre, dann würde die moralin-
freie Doktrin Machiavellis kaum widerlegt werden können. Die praktische Politik hat überdies
in alten, wie in neueren Zeiten oft genug zu jedem Gebot der Ethik in Widerspruch gestanden.
Gleichwohl bekennt sich die Wissenschaft heute zu der Lehre, dass die Politik den Moralgesetzen
unterworfen ist. Man begründet dies entweder damit, dass der Staat als solcher in der sittlichen
Ordnung begründet sei;28) oder mit der Erklärung, für den Staat seien besondere Sittengesetze
massgebend; andere, als für den Einzelnen; höchstes Sittengebot für den Staat sei das Gebot der
Selbsterhaltung, überhaupt die Machtbehauptung.?*)
Beide Lehren sind irrig. Die erste geht von einem falschen Staatsbegriff aus; der Staat als
solcher gehört nicht der Sittlichkeit an, sondern ist autonome Rechtsherrschaft. Die zweite aber
konstruiert eine Sittlichkeit, die nicht „echt christlich‘ ist, wie v. Treitschke meint,25) sondern
echt antik-beidnisch; man streckt zudem die Moral ins Prokrustesbett, bis sie sich mit der poli-
tischen Übung deckt®). — —
Da Politik Staatsmachtlehre bedeutet, hat sie an sich mit der Moral (als Wissenschaft, mit
der Ethik) ebensowenig zu tun, als an sich die Politik als Praxis mit ethischer Betätigung. Die
Betrachtung der Geschichte erweist denn auch, dass nicht nur in niedriger stehenden Zeiten, sondern
noch in der Gegenwart bei der politischen Betätigung die brutale Gewalt oft genug nur dürftig
verdeckt wird mit einem sittlichen Vorwand. Etwas anderes ist es doch schliesslich nicht, wenn
heute die eine oder andere Weltmacht fremde Länder geringerer staatlicher Ordnung und minderer
wirtschaftlicher Entfaltung in irgendeiner Form sich unterwirft oder angliedert (penetration paci-
fique), um dort „Zivilisation“ oder „Ordnung“ zu schaffen! Falls man daher das Gebot der Ethik
für die Politik schlechthin aufstellt, spricht man eine Phrase aus, die in der rauhen Wirklichkeit
wie Spreu verfliegt.
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Über das Verhältnis von Politik und Moral bringt die universalgeschichtliche Betrachtung
Klarheit. Da die Macht im Staat und das Ringen um staatliche Macht stets sich der Formen des
Rechts bedienten, sind die Stufen der Rechtsentwicklung von wesentlichem Einfluss auf die Politik.
Alles Recht zeigt aber, von den Urzeiten der Rechtsbildung bis zur Gegenwart, drei grund-
legende Gestaltungen: Religiösrechtliche Epoche, Anethische
Rechtsgestaltung, Sittlich-rechtliche Synthese?)
Im Anfang ist die Gemeinschaft aus Sakralverbänden gebildet; Recht und Kult
(der die Ethik in sich schliesst) fallen zusammen. Der Fremde, der jenseits der Gemeinschaft Ste-
hende ist Feind — sowohl des staatlichen Gemeinwesens wie der Kultgenossenschaft; seine Ver-
nichtung ist daher zugleich relisiöse Pflicht. Der Untertan steht unter absoluter Herrschaft des
Priesterkönigs oder der Hierarchenoligarchie.
®) So v. Hertling, im Staatslexikon der Görresgesellschaft, 4, S. 556: „Geht man davon aus, dass der Staat
als soloner in der eittlichen Ordnung begründet ist, so leuchtet ein, dass ein Widerspruch zwischen den Zwecken
und Aufgaben des staatlichen Lebens und denı Sittengesetz in Wahrheit nicht bestehen kann...‘ Ebenda, S. 561:
»... Soist also... die volle Herrschaft der Moralgesetze auf dem politischen Gebiet zu proklamieren .. .““
#4) Rümelin, Über das Verhältnis der Politik zur Moral, S. 157, unter Bezugnahme auf den Satz: salus
publica suprema lex esto. — v. Treitschke, Politik, I, S. 87—112, S. 100 £.: „...... erinnern wir uns, dass das Wesen
Jieser grossen Gesamtpersönlichkeit (soil. des Staates) Macht ist, so ist also für seine Macht zu sorgen die höchste
sittliche Pflicht des Staates. Das Individuum soll sioh opfern für eine böhere Gemeinschaft, deren Glied es ist;
der Staat aber ist selbst das Höchste in der äusseren Gemeinschaft der Menschen ... . Daraus ergibt sich also,
dass man unterscheiden muss zwischen öffentlicher und privater Moral... Auch im Innern ist die Maoht, das Auf-
rechterhalten und Durchsetzen des Staatswillens das Wesentliche,‘
») n.0. 0. S. 100.
a ”) ” Treitschke, Politik, I, S. 106: „Die Moral muss politischer werden, wenn die Politik moralisoher
werden soll... .“
Ähnlich schon Rümelin, Über das Verhältnis der Politik zur Moral, S. 168.
”) Des näheren vergl. mein System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 2—5 und mein
Moral und Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, München 1914.