Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

312 Paul Schoen, Die Verordnungen. 
  
Gruppen hält. Nach den Verfassungen der zuerst genannten Staaten dürfen Notverordnungen nur 
erlassen werden, wenn die Volksvertretung nicht versammelt ist, indem diese Gesetzgebungen 
davon ausgehen, dass anderenfalls sich ja der Weg der Gesetzgebung ohne weiteres beschreiten 
lässt. Weiter bedürfen die Notverordnungen nach den meisten dieser Verfassungen der Gegen- 
zeichnung des gesamten Staatsministeriums, das damit die Verantwortung für sie dem Landtage 
gegenüber übernimmt. Sie sind sodann inhaltlich dahin beschränkt, dass sie keine Bestimmungen 
enthalten dürfen, die der Verfassung, bisweilen (z. B. im Kgr. Sachsen, Grossh. Sachsen, Reuss j. L.) 
auch keine, die dem Wahlgesetze zuwiderlaufen. Sie sind stets — auch wenn sie, was möglich ist, 
keine Rechtssätze enthalten, also materiell Verwaltungsverordnungen sind — wie die formellen 
Gesetze zu publizieren. Und sie sind endlich dem Landtage bei seinem nächsten Zusammentritte 
zur Genehmigung vorzulegen. Erteilt dieser die Genehmigung, so bleibt die Verordnung als voll- 
wertiges Gesetz, zu dem beide gesetzgebende Faktoren zugestimmt haben, in Kraft. Verweigert 
er sie, so tritt nach einigen Verfassungen (z. B. Grossh. Sachsen, Sachsen-Koburg-Gotha, Braun- 
schweig) die Verordnung ohne weiteres ausser Kraft, während andere (z. B. Oldenburg, Schwarz- 
burg-Sond.) bestimmen, dass die Regierung sie sofort wieder aufzuheben hat. Sagt die Verfassung 
überhaupt nichts über die Wirkung der Verweigerung der Zustimmung (z. B. Preussen, Kgr. Sachsen, 
Reuss ä. u. j. L.), so ist anzunehmen, dass mit ihr die Verordnung ohne weiteres ausser Kraft tritt, 
da sie unter der Voraussetzung der Zustimmung des Landtages erlassen ist;22) nur für Preussen 
ist diese Deduktion unzutreffend, indem ihr hier die positive Bestimmung des Art. 106 Verf.-Urk. 
entgegentritt, nach dem alle gehörig publizierten königlichen Verordnungen, also auch die Notver- 
ordnungen, so lange verbindlich sind, bis ihre Aufhebung durch die Staatsregierung gehörig bekannt 
gemacht ist. Der Wegfall der Notverordnung wirkt nur für die Zukunft, nicht für die Vergangen- 
heit; deshalb bestehen die unter ihrer Herrschaft entstandenen Rechtsverhältnisse fort und sind 
nach ihr zu beurteilen. Durch die Notverordnung aufgehobene Gesetze treten mit ihrem Weg- 
falle von selbst wieder in Kraft. In Hessen ist das Notverordnungsrecht insofern ein etwas freieres, 
als es auch bei versammelten Landständen ausgeübt werden darf, als weiter die Notverordnung 
diesen zur Genehmigung nur vorgelegt werden muss, wenn sie nach Ablauf eines Jahres noch für 
längere Zeit oder bleibend fortbestehen soll (Ges. 15. Juli 1862), und auch eine Gegenzeichnung 
derselben durch alle Minister nicht vorgeschrieben ist; die Notverordnungen finden aber auch hier 
ihre Schranke an den Bestimmungen der Verfassungsurkunde und müssen von der Regierung auf- 
gehoben werden, wenn sie dem Landtage vorgelegt und von diesem nicht genehmigt sind. In Baden 
und Württemberg dagegen ist dem Notverordnungsrechte überhaupt keine der vorbezeichneten 
Schranken gezogen: Notverordnungen dürfen hier nicht nur, ebenso wie in Hessen, auch bei ver- 
sammeltem Landtage und unter Kontrasignatur eines Ministers erlassen werden, sie können 
hier auch Verfassungsvorschriften ändern und aufheben, und bedürfen keiner nachträglichen stän- 
dischen Genehmigung; die einmal erlassene Notverordnung gilt hier, bis der Landesherr in ihre 
Aufhebung willigt, selbst wenn die Stände die Voraussetzungen für ihren Erlass oder ihre Fort- 
existenz nicht für gegeben halten. Dem Reichsstaatsrechte ist das Institut der Notverordnung 
im allgemeinen unbekannt; es besteht jedoch für Elsass-Lothringen (Verf.Ges. 31. Mai 1911 
Art. 11 $23). Hier kann der Kaiser, während der Landtag nicht versammelt ist, Verordnungen 
mit Gesetzeskraft erlassen. Diese sind wie alle Anordnungen, die der Kaiser als Träger der Staats- 
gewalt in Elsass-Lothringen erlässt, vom Statthalter zu kontrasignieren. Sie finden inhaltlich 
ihre Schranke an den Bestimmungen des Verfassungsgesetzes, da dieses (Verf.-Ges. Art. III) nur 
im Wege der Reichsgesetzgebung, also nieht durch eine Notverordnung, geändert werden darf. 
Sie sind dem Landtage bei seinem nächsten Zusammentreten zur Genehmigung vorzulegen und 
treten bei Versagung dieser ausser Kraft. 
  
#2) Die Frage ist jedoch bestritten, vgl. G.Meyer, St. R.S. 579° u. betr. Sachsens bee. O. Mayer, 
Bt.R. des Kgr. Sachsen S. 183. Allerdings muss auch nach der oben vertretenen Ansicht die Regierung die Ab- 
lehnung der Zustimmung alsbald bekanntmachen, damit die Unwirksamkeit der Vdg. allgemein bekannt werde,
	        
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