316 Fritz Stier-Sonilo, Justiz und Verwaltung.
sie abgeändert oder beseitigt werden. So lange sie aber bestehen, muss sie der Richter anwenden, er
darf nicht neues Recht gegenüber dem bestehenden setzen. Darüber, welche Mittel geeignet sind,
zur Erfüllung des Erfordernisses der Rechtsgemässheit beizutragen, kann hier nicht gehandelt
werden. Eines der wichtigsten ist aber die Erkenntnis der Grundlinien und Grundgedanken, die das
gesamte Rechtssystem beherrschen, und die auch.richtunggebend sind für die Entscheidung in den
Fällen, in denen das Gesetz dem Wortlaute nach scheinbar versagt. Ein bemerkenswerter ge-
setzgeberischer Versuch, das Problem zu lösen, ist der des Schweizer Zivilgesetzbuchs, das mit dem
Jahre 1912 in Kraft trat und in Art. 1 bestimmt: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwen-
dung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine
Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnbheitsrecht und, wo ein solches fehlt,
nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt da-
bei bewährter Lehre und Überlieferung.“
Erweist sich solcher Art das übliche materielle Entscheidungsmerkmal der Verwaltung nicht
mehr für diese allein kennzeichnend, da das freie Ermessen, die „Zweckmässigkeit‘, „Angemessen-
heit‘ auch den richterlichen Handlungen nicht zu fehlen braucht, so ist umgekehrt die rechtliche
Bindung der Verwaltung in zahlreichen Beziehungen — nicht, wie man meint, in allen — wohl durch-
geführt. Es handelt sich hier um das berühmte Erfordernis der „gesetzmässigen Verwaltung‘.
Hierbei ist ein Verweilen erforderlich.
Einen in der Wissenschaft allgemein anerkannten Begriff des Rechtsstaats haben wir nicht.
Man hält sich mit Recht an die historische Entwicklung einer Anzahl grundlegender Errungenschaften
des modernen Staatswesens, denkt an die Unabhängigkeit der Gerichte, an die Selbstverwaltung,
an die Verwaltungsgerichtsbarkeit, unterscheidet im übrigen drei Stufen der rechtsstaatlichen Ent-
wicklung. Die erste ist als Gegenpol der absolutistischen Staatsauffassung zu begreifen. Es handelt
eich um die Reaktion gegen die bevormundende Staatsallmacht und die Rech tsauffassung vom
Staate. Das ist die, wenigstens in Deutschland, ursprünglichste und allgemeinste Formel, die für
den „Rechtsstaat“ ersonnen wurde (Pufendorf, Kant, Wilh. von Humboldt).
Die Beschränkung des Staates lediglich auf die Rechtspflege, die Bestimmung seines Cha-
rakters als eines Rechtsschutzvereins und seine Kennzeichnung, dass das Verhältnis der
öffentlichen Gewalt zum einzelnen durch das Recht geordnet sein müsse, darf als das
Stich-Merkmal angesehen werden. Als die zweite Stufe des Rechtsstaats stellt sich der „konsti-
tutionelle‘‘ Staat dar, d. h. derjenige, in dem die Bildung des Staatswillens in Übereinstimmung
des Monarchen mit den gesetzgebenden Körperschaften vor sich geht. So findet sich der Ausdruck
„Bechts- und Verwaltungsstaat“ (Stahl, Rob. von Mohl). Aufder dritten Entwicklungs-
stufe spricht man von dem „modernen Rechtsstaate‘, in dem die ganze Verwaltung unter dem
Gesetze steht, an dieses gebunden ist. Dieser Grundsatz bedeutet eine erhebliche Einschränkung
des freien Ermessens. Niemals darf, das ist der Sinn der „gesetzmässigen Verwaltung‘, das freie
Ermessen in Willkür ausarten, es muss stets rechtmässig sein, d. h. entweder durch Gesetz im Sinne
einer jeden Rechtsnorm ausdrücklich zugelassen oder aber durch eine Rechtsnorm nicht gehindert
sein, im übrigenaberdem Wesen derVerwaltunggemässerlaubterscheinen. Freilich wirdmanallgemein
einsehen müssen — wovon wir noch weit entfernt sind —, dass dieser formale Begriff der „gesetz-
mässigen Verwaltung‘ nicht ausreicht. Erstens schaltet man, indem man auf die Garantie der
Gesetzmässigkeit das alleinige Gewicht legt, diejenigen Errungenschaften des modernen Staates
aus der Begriffsbestimmung aus, ohne die doch der moderne Rechtsstaat nicht denkbar ist, wie
die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, den Konstitutionalismus, die Selbstverwaltung. Zweitens
ist die Idee der „Gesetzmässigkeit der Verwaltung‘ viel zu unbestimmt, weil sie die Frage offen
lässt, was „Gesetzmässigkeit‘ ist: die Verwaltung auf Grund eines formellen Gesetzes, einer all-
gemeinen Ermächtigung, eines aus dem Wesen der Verwaltung überhaupt folgenden Grundsatzes ?
Ist es nur das Erstere, dann würde man der Verwaltung schlechterdings unerfüllbare Aufgaben
stellen, die mit einer solchen engen Bindung nicht auszukommen vermöchte. Ist es aber auch gesetz-
mässig, auf Grund einer Ermächtigung oder eines allgemeinen Grundsatzes zu handeln, dann ist
der Rahmen der „Gesetzmässigkeit‘‘ soweit gezogen, dass die strenge Formel sich verflüchtigt.
Gleichwohl habe ich keinen Zweifel, dass unsere moderne Verwaltung nur auf dieser letzteren breiten
Grundlage beruhen kann, dass sie also auch gesetzmässig bleibt, wenn sie sich auf eine allgemeine