Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit. 391
mässigkeit der Verwaltung in der konstitutionellen Verantwortlichkeit der Minister zu besitzen
glaubte, wobei nicht bedacht wurde, dass die Ministerverantwortlichkeit nur dann wirklich korrektive
Bedeutung hat, wenn, was z. B. in Preussen nicht der Fall ist, die Volksvertretung das Recht und
die Macht hat, den Rücktritt der Minister gegen den Willen der Krone zu erzwingen, und dass,
abgesehen hiervon, jene Verantwortlichkeit in einem sehr wesentlichen Falle keine Garantie gegen
Willkürlichkeiten bietet: dann nämlich, wenn die Parlamentsmehrheit dem Minister ergeben ist,
in ihm den Mann ihrer Partei, ihres Vertrauens erblickt und ihn deshalb nicht zur Verantwortung
zieht.
Es blieb also auch unter dem Konstitutionalismus vorerst dabei, dass, wer anstatt mit dem
Nachbar, mit den Organen der öffentlichen Gewalt, namentlich mit der Polizei streiten wollte,
sich unter Ausschluss des Rechtsweges auf den Weg der Verwaltungsbeschwerde an die höhere
Instanz, zuletzt an den Ressortminister, angewiesen sah. Das hiess: der Minister entscheidet an
oberster Stelle auch dann, wenn den ihm nachgeordneten Stellen das Recht auf Eingriff und Zwang
von der betroffenen Partei streitig gemacht wurde. Das Verwaltungsrecht seines Ressorts steht
ihm einfach zur Verfügung. Er entscheidet über die an ihn gelangenden Beschwerden durch
Reskript, per decretum simplex, in einem formlosen schriftlichen Verfahren, nach Akten, auf deren
Inhalt der Beschwerdeführer keinen Einfluss und auf deren Kenntnis er keinen Anspruch hat; er ent-
scheidet auf den Bericht der Behörd3, gegenderen Verfügungdie Beschwerdesich richtet, erentscheidet
nur allzuhäufig nach dem Prinzip, dass im Interesse der „Staatsautorität‘ (und der massgebenden
politischen Richtung) die angegriffene Behörde wenn irgend möglich nicht ins Unrecht gesetzt
werden darf. So blieb die Verwaltung, wenn sie auch nicht mehr, wie ehedem, ihr eigener Gesetz-
geber sein durfte, doch auch nach der Verfassung noch ihr eigener Richter. Im praktischen
Effekt bedeutete das, dass sie jedes ihr erwünschte Recht sich auch dann zusprechen konnte, wenn
es ihr bestritten wurde. Massgebend für ihr Tun und Lassen war schliesslich doch nicht das Gesetz,
sondern ihr eigener Wille. Den hierin liegenden Widerspruch mit der Verfassung liess in Preussen
die dem Eintritt des konstitutionellen Regimes auf dem Fusse folgende „Reaktionszeit‘‘ (1850—1858)
grell hervortreten. Hier wurde das Unzulängliche, welches darin liegt, dass das rechtsstaatliche
Prinzip der gesetzmässigen Verwaltung zwar „gilt‘‘, aber jeder Schutzgarantie entbehrt, Ereignis.
Der de jure abgeschaffte Polizeistaat lebte de facto fort; niemals hat die preussische Verwaltung
so ungescheut wie damals nach dem Grundsatz handeln dürfen: erlaubt ist, was mir gefällt.
Der diesen Missständen zugrundeliegende Fehler lag in der Konstruktion des Rechtsstaatsge-
bäudes. Man hatte, dem Prinzip der Gewaltenteilung zuwider, zuviel Gewalt in einer Hand vereinigt
gelassen. Man hatte in die Hand jedes Ressortministers zwei Funktionen gelegt, welche in jedem
Staate, der nicht nur dem Namen nach ein Rechtsstaat sein will, getrennt sein müssen: die
reine oder tätige (laufende) und die streitentscheidende Verwaltung. Man
hatte dem Minister nicht nur, wie recht und richtig, die verantwortliche Leitung der Verwaltungs-
tätigkeits eines Ressorts, sondern auch noch das Recht überlassen, alle Streitigkeiten zu entscheiden,
welche sich aus Anlass dieser Tätigkeit ergaben. Die ordentlichen Gerichte waren zur Ent-
scheidung solcher Streitigkeiten unzuständig, eine andere, hierfür zuständige, gleich den Gerichten
von der laufenden Verwaltung unabhängige Instanz fehlte.
Dass dies ein unhaltbarer, durchaus reformbedürftiger Zustand war, wurde innerhalb und
ausserhalb Preussens bald eingesehen. Aber über das Wie und Wohin des zur Besserung einzu-
schlagenden Weges gingen die Meinungen weit auseinander.
Als das Nächstliegende erschien die Übertragung der streitentscheidenden Pflege des Ver-
waltungsrechts an die ordentlichen Gerichte. Und in der Tat ist dieser Gedanke oft
genug geäussert und vertreten worden. Schon die Frankfurter Grundrechte des Deutschen Volkes
von 1848 wollten ihn zum Gesetz erhı ben: „Die Verwaltungsrechtspflege (d. h. alle den Verwaltungs-
behörden zustehende Gerichtsbarkeit) hört auf, über alle Rechtsverletzungen entscheiden die
Gerichte“ (Reichsverfassung v. 1849, $ 182). Aus der Bewegung des Jahres 1848 übernahm ihn
der Liberalismus der 60er Jahre, insbesondere in Preussen, und verhalf ihm dort zu einem, freilich
nicht sehr bedeutsamem Teilerfolge: preuss. Gesetz betr. die Erweiterung des Rechtswegs vom
24. Mai 1861. Bald darauf erstand ihm in Otto Bähr („Der Rechtsstaat‘, 1864) sein hervor-
Handbuch der Politik. IT. Auflage. Band I. 2