Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit. 325
bemessenen Ausnahmen, welche die Urteilsfällung auch ohne voraufgehende mündliche Verhandlung,
auf Grund der Akten, gestatten.
3. Zuständigkeit. -— Formell am weitesten reicht die sachliche Zuständigkeit (der
Wirkungskreis) der Verwaltungsgerichte in Württemberg und Sachsen. Die Gesetze dieser Länder
zählen zunächst eine Reihe von sog. Parteistreitigkeiten des öff. Rechts (Streitig-
keiten zwischen Gemeinden und anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts und ihren Mit-
gliedern oder unter sich oder zwischen Individuen untereinander über Ansprüche und Verbindlich-
keiten aus dem öffentl. Recht) als zur Kompetenz der Verwaltungsgerichte gehörig namentlich
auf, lassen aber ausserdem noch eine Generalklage (Rechtsbeschwerde, Anfechtungsklage) bei dem
obersten Verwaltungsgerichtshof zu in allen Fällen, wo jemand durch eine ungesetzliche Ver-
fügung der Staatsverwaltung (Sachsen: der inneren Verwaltung) in seinen Rechten verletzt oder
mit einer ihm nicht obliegenden Verbindlichkeit belastet zu sein behauptet. Der Gesetzgebung
Preussens und der meisten anderen Einzelstaaten ist diese Unterscheidung zwischen „Partei-
streitigkeiten”“ und „Anfechtungs-"“ bezw. „Rechtsbeschwerdesachen“ fremd, indem einerseits
nicht nur in den Fällen der ersten sondern auch in denen der zweiten Kategorie, da also, wo es sich
um Streitigkeiten zwischen Untertan und Staatsgewalt handelt, das Recht auf Anrufung der
Verwaltungsgerichte nicht allgemein, sondern nur in den vom Ersatz namentlich aufgezählten
Fällen gegeben ist, — andererseits aber diese Fälle prozessual ganz ebenso behandelt werden, wie
diejenigen, welche das württembergische und sächsische Recht als „‚Parteistreitigkeiten‘“ bezeichnet.
Nach preuss. Recht ist jede Verwaltungsstreitsache eine Parteistreitigkeit: Kontestationen
zwischen Untertan und Staatsgewalt sind davon nicht ausgenommen, die betreffende Verwaltungs-
behörde (z. B. Polizeibehörde) erscheint dabei stets als Prozesspartei und zwar regelmässig in der
Rolle des Beklagten.
Ist sonach die Zuständigkeit der preussischen (und ebenso die der bayerischen, badischen,
hessischen) Verwaltungsgerichte nicht durch Generalklausel, sondern aufzählen.d bestimmend
(durch das ZG v. 1. August 1883 und viele anderen Einzelgesetze vgl. auch preuss. Ges. über die
allgem. Landesverwaltung, $ 7), so reicht doch diese Zuständigkeit, vermöge der grossen Zahl und
Bedeutung der sie begründenden Bestimmungen, tatsächlich sehr weit. Die wichtigsten Gruppen
der den Verwaltungsgerichten in Preussen zugewiesenen Sachen sind folgende:
a) Streitigkeiten der Gemeinden und höheren Kommunalverbände (Kreise, Provinzen)
einerseits mit dem Staat (über ihr Recht auf Selbstverwaltung, z. B. über die Berechtigung der
Staatsaufsichtsbehörde, die Einstellung eines Ausgabepostens in das Gemeindebudget zu verlangen),
andererseits mit ihren Mitgliedern bezw. Einwohnern (z. B. über Erwerb, Verlust und Inhalt des
Bürgerrechts, über das Recht auf Benutzung von Gemeindeanstalten, die Pflicht zur Zahlung von
Gemeindeabgaben.
Ab) Streitigkeiten über die Tragung öffentlicher Lasten z. B. der Wegeunterhaltungspflicht,
der Pflicht zur Räumung von Wasserläufen, der Schulbaulast, der Armenlast.
c) Streitigkeiten über den Umfang der polizeilichen Verfügungsgewalt: gegen Verfügungen
der Orts-, Kreis- und Landespolizeibehörden kann nach $$ 127 ff. LVG bei den Verwaltungs-
gerichten Klage erhoben werden; die Klage kann nur darauf gestützt werden, dass die Verfügung
durch Nichtanwendung oder unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts den Kläger in seinen
Rechten verletze, oder darauf, dass die tatsächlichen Voraussetzungen nicht vorhanden seien,
welche die Polizeibehörde zum Erlassen der Verfügung berechtigt haben würden.
d) Streitigkeiten über die Verpflichtung zur Zahlung direkter Staatssteuern (der Einkommen-
und „Ergänzungs“-[Vermögens-]steuer).
inzuzufügen ist noch, dass in Preussen die Disziplinargerichtsbarkeit über die Kommunal-
beamten den Verwaltungsgerichten übertragen ist.
XV. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frankreich und Österreich-Ungarn.
1. Frankreich ist in der Ausbildung der VG allen andern Ländern vorangegangen.
Die VG ist hier nach Abschluss der Revolutionszeit durch Napoleon I. eingeführt worden, in einem
Werke mit dem von ibm bald nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire berichteten Neuaufbau