Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

326 Gerhard Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit. 
  
der Verfassung und Verwaltung (Verfassung vom 22. frimaire und Gesetz vom 28. pluviose des Jahres 
VIII der Republik). Einer der leitenden Gedanken dieser Gesetzgebung des Jahres VIII ist die 
Trennung der streitentscheidenden von der tätigen oder reinen Verwaltung (des contentieux admini- 
stratif von der administration pure). Letztere wird durchweg von Einzelbeamten (Ministern, Prä- 
fekten, Unterpräfekten, Maires) geführt, erstere an Kollegien übertragen, welche indessen nicht aus 
dem Verwaltungsorganismus hinaus-, sondern in ihn hineinverlegt sind: die conseils de prefecture 
und der über ihnen stehende conseil d’Etat. So bedeutet die VG in Frankreich seit Anbeginn ihres 
Bestehens nichts anderes, als was sie heute in Deutschland darstellt: die Rechtskontrolle der Ver- 
waltung durch eine ihr nicht fremde, sondern immanente Macht, durch besondere, gerichtsähnlich 
formierte und prozedierende Verwaltungsorgane. 
Die spätere Gesetzgebung hat die Grundprinzipien dieser napoleonischen Einrichtungen 
nur ausgebaut, nicht verändert. Danach sind die Hauptorgane der französischen VG noch heute 
die conseils de prefecture, Präfekturräte, und der Staatsrat, ersterer stets in erster, der Staatsrat 
stets in letzter (teils in zweiter, teils in erster und einziger) Instanz entscheidend. Von einer Heran- 
ziehung unbeamteter Elemente ist in beiden Instanzen Abstand genommen: sowohl die Präfektur- 
räte wie der Staatsrat bestehen nur aus besoldeten Berufsbeamten, die übrigens in ihrer dienst- 
lichen Stellung der Garantieen richterlicher Unabhängigkeit so gut wie völlig entbehren. Der 
organische Zusammenhang der VG mit der reinenVerwaltung ist in beiden Instanzen stark betont: 
der Präfekturrat dient nicht nur als Verwaltungsgericht, sondern auch als Verwaltungsbehörde, 
den Vorsitz in ihm führt der leitende Verwaltungsbeamte des Bezirkes, der Präfekt; der Staatsrat 
ist nicht nur oberster Verwaltungsgerichtshof, sondern auch, und sogar in erster Linie, ein oberstes, 
Staatsoberhaupt und Minister beratendes Verwaltungskollegium. Diese Verbindung von Ver- 
waltung und VG auch in der Zentralinstanz stellt eine erhebliche Abweichung von den deutschen 
Einrichtungen (s. 0.) dar: hierdurch und auch in ihrer sonstigen Anlage und Organisation ist die fran- 
zösische VG noch viel mehr Verwaltung, weniger Justiz als die deutsche. 
Die sachliche Zuständigkeit der Präfekturräte ist durch zahlreiche Gesetze aufzählend 
bestimmt. Gegen ihre Urteile findet der Rekurs an den Staatsrat statt, welcher ausserdem, als 
Verwaltungsgericht erster und letzter Instanz erkennt über „demandes d’annulation pour excds 
de pouvoir contre les actes des autorites administratives“, also über Nichtigkeitsbeschwerden, welche 
gegen Akte der Verwaltungsbehörden wegen Machtüberschreitung erhoben worden sind. Auf 
diesem Wege können Verfügungen und Entscheidungen aller Staats- und Kommunalbehörden 
vor den Staatsrat gebracht werden, dem damit eine sehr weitreichende Rechtskontrolle über 
die gesamte Verwaltung ermöglicht ist. 
2. Der durch das Gesetz v. 22. Oktober 1875 geschaffenen österreichischen VG 
ist, im Vergleich mit der deutschen und französischen, eigentümlich der Mangel einer Gliederung 
in mehrere Instanzen. Der Träger der VG, der Verwaltungsgerichtshof, entscheidet stets in erster 
und einziger Instanz. Unterinstanzen der VG bestehen nicht, auch nicht in dem Sinne, dass ge- 
wissen Verwaltungsbehörden für alle oder bestimmte Fälle streitentscheidender Tätigkeit ein prozess- 
ähnliches Verfahren vorgeschrieben wäre. Die streitentscheidende Verwaltungstätigkeit ist auch 
prozessual nicht differenziert. Alle Streitfragen des Verwaltungsrechts sind zunächst im allgemeinen 
Instanzenzuge der Verwaltung dadurch zum Austrag zu bringen, dass der Rechtsuchende von dem 
Mittel der Verwaltungsbeschwerde bis zur letzten Instanz Gebrauch macht: erst nach Erschöpfung 
dieses Instanzenzuges kann die Sache vor den VG-hof gebracht werden. Dieser — wie die deutschen 
zentralen Verwaltungsgerichtshöfe ausschliesslich mit Berufsbeamten besetzt und mit allen Kau- 
telen richterlicher Unabhängigkeit ausgestattet — entscheidet in allen Fällen, in denen jemand 
durch eine gesetzwidrige Entscheidung oder Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten 
verletzt zu sein behauptet. Seine Zuständigkeit ist also, abweichend von dem in Deutschland 
geltenden Recht, durch eine Generalklausel, und nur durch eine solche, abgegrenzt. Der öster- 
reichische VG-hof ist ausschliesslich Kassationsinstanz: er kann die vor ihn gebrachte Verwaltungs- 
verfügung nicht abändern, sondern nur entweder aufheben oder — durch Abweisung der dagegen 
erhobenen Klage — bestätigen.
	        
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