334 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege.
stimmten Voraussetzungen er allein die Erlaubnis zum Rechtsmittelangiff versagen dürfe, ist zu
perhorreszieren, insofern sie den Zweck der Einschläferung von Argwohn und Misstrauen gegen
den Richter (,„Willkür‘“ des Richters) doch nicht zu erreichen vermag, wohl aber ihrerseits eine
Quelle von Streitigkeiten vor dem höchstinstanzlichen Gericht werden würde, die ebenso zeitraubend
sind wie das Rechtsmittel in der Sache selbst und dem Ansehen der Justiz nur schaden können.
Glaubt man also, dass nach der Art der Richter, deren Ermessen walten müsste, eine unbefangene
Würdigung der konkreten Dienlichkeit des Rechtsmittels nicht zu erwarten ist, vielmehr zu befürch-
ten stünde, dass die Richter entweder in übermässig vielen Fällen die Verantwortung für die Ent-
scheidung auf das höhere Gericht würden abschieben wollen oder umgekehrt geneigt wären, ihre
Urteile für unfehlbar zu halten oder jedenfalls der Kritik durch das höhere Gericht zu entziehen
(sog. Vermauerung), so ist die erörterte Umbildung des Rechtsmittelwesens gar nicht zu ver-
suchen. Andererseits könnte eine Sicherung gegen ein bei einzelnen Richtern etwa vorhandenes
Vermauerungsbestreben beim Kollegialgericht darin gefunden werden, dass zum Versagen des
Rechtsmittels Einstimmigkeit verlangt würde.
6. Unmittelbar hängt mit der eben berührten Frage eines der Tatbestandsermittlung ganz be-
raubten Revisionsgerichts zusammen die hiernurkurzzustreifende Frage der Ausbildungund Auswahl
der Richter, des gelehrten oder Laienrichtertums, der monokratischen oder kollegialen Verfassung der
Gerichte und innerhalb der Kollegialverfassung die Frage der grösseren oder geringeren, dernotwendig
ungeraden oder vielleicht auch geraden Zahl, der Mehrheit oder Einstimmigkeit bei Entscheidungen
ungerad besetzter Kollegien. Zum Teil finden diesedem allgemeinen Staatsrecht so gut wie dem Pro-
zess angehörenden Probleme an anderer Stelle des Handbuchs ihre eigene Darstellung. Neuere
Vorgänge in England nötigen zu entschiedener Betonung der Forderung, dass bei der Auswahl der
Richter ihre politische Gesinnung völlig ausser Betracht bleiben müsse. Dort ist von Parlaments-
mitgliedern der Regierungspartei verlangt worden, dass bei der Besetzung gewisser Richterstellen
der Lordkanzler, in dessen Hand die Ernennung liegt, den Wünschen des Abgeordneten Rechnung
trage, in dessen Bezirk der Richter Jurisdiktion üben wird, damit einflussreiche Parteimitglieder
nicht ohne die Belohnung dieser — ehrenamtlichen — Stellen zu bleiben brauchen. Die Zurück-
weisung dieser Prätensionen durch den Lordkanzler ist nicht ohne merkbare Erschütterung seiner
Stellung gelungen. Während man früher die Parlamente als Hüter und Wächter der unparteiischen
Besetzung richterlicher Ämter durch die Regierung anzusehen geneigt war, ist heute umgekehrt
die Regierung im Parlament vielfach dazu gedrängt, die politische Farblosigkeit des Richters
gegen die Patronagewünsche wie gegen die parteipolitische Kritik der Volksvertreter zu ver-
teidigen, ein Zustand, der im Interesse der parlamentarischen Verfassung (und besonders vom
Standpunkt derer, die an die Möglichkeit einer demokratischen Regierungsform glauben) mehr
zu bedauern ist als im Interesse der Justiz.
Grössere praktische Bedeutung hat für deutsche Verbältnisse heute die Frage, ob an den
Richter ausschliesslich oder vorwiegend Anforderungen des technisch-juristischen Könnens zu stellen
seien oder ob seine Tauglichkeit zum Richteramt sich wesentlich nach seiner Lebenskenntnis,
seinem Verständnis der sittlichen Anschauungsweise und der wirtschaftlichen Gewohnheit des
Volks beurteilen solle. Dabei ist, wenn dies letztere emphatisch bejaht wird, nur eine neue Frage
aufgetan: ist es möglich, dem künftigen Richter diese Fähigkeiten in der Ausbildungszeit anzulernen
und ihn vor der Anstellung darauf zu prüfen, ob er sie erworben hat und richtig übt? Wir dürfen
der Möglichkeit, da ihre Verwirklichung so sehr zu wünschen wäre, das beneficium des Zweifels
geben, uns aber nicht verheblen, dass auf jeden Fall eine Verstärkung der diskretionären Gewalten
des Leiters der Justizverwaltung in Kaufgenommen werden muss, und dass von der Forderung des
Verständnisses für die „Wirtschaft“ (im Gegensatz oder als Ergänzung zum reinen „‚Recht‘‘) nur ein
kleiner Schritt ist zu der Forderung eines Einschwörens der Richter auf bestimmte wirtschaftliche
Anschauungen und Dogmen, seien sie wissenschaftlicher oder politischer Natur.
Bestimmteres lässt sich über die Kollegialverfassung der Gerichte sagen. Der Einzelrichter
der ersten Instanz ist nirgends in Gefahr, bei einer Reform dem Kollegium weichen zu müssen, im
Gegenteil ist einer der wenigen Punkte, an denen die Reohtsvergleichung eine Regel für die ganze