336 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege.
eine Probe, wie sie für sehr v’ele andere Reformvorschläge ebenso drastisch zu wünschen wäre. Die
ordentlichen Gerichte werden sozusagen in den Kampf ums Dasein gestellt, und wenn sie in diesem
Kampf sich verjüngt und ungeeignete Stücke ihrer Ausrüstung gegen wirksamere vertauscht haben,
so werden sie die Jurisdiktion wieder an sich ziehen können, die ihnen zugunsten der Sonder-
gerichte genommen wurde. 2
Ganz anders sind die in Baden und Württemberg fungierenden Gemeindegerichte einzu-
schätzen. Sie dienen den ordentlichen Gerichten zu sehr praktischer Erleichterung der Geschäftslast
und baben sich so sehr bewährt, dass die Durchführung des ihnen zugrunde liegenden Gedankens
durch das ganze Reich angezeigt erscheint und nur die Verschiedenheit des politischen Verhältnisses
zwischen Gemeindevorstehern und Gemeindeangehörigen in den verschiedenen Staaten einen
Grund zur sorgfältigen Prüfung der Frage abgibt, ob diese Rechtsprechung in Bagatellsachen auch
anderwärts wie in Südwestdeutschland durch den Vorsteher oder einen deputierten ständigen Ge-
meinderichter ausgeübt werden kann. Die Ergebnisse, die das Verfahren in der Praxis gehabt hat,
sind unter reiflicher Überlegung des Für und Wider in zwei Abhandlungen von R. Schmidt (Fest-
gabe f. Laband 2 339 und Weidlich (Rhein. Z. 1 45) und in der Monographie von Hegler (Tübingen
1910) vortrefflich zur Darstellung gebracht.
9. Kommen wir zu einer durchgehenden Bagatellgerichtsbarkeit für das ganze Reich, so wäre
hier zweckmässig einzusetzen mit der Übertragung der Funktion der Rechtsratserteilung an den
Richter. Das, was damit erreicht werden sollte und anderwärts wirklich erreicht wird, nämlich eine
Stärkung des richterlichen Imperiums in der Vorstellung des Volkes und in der Wirklichkeit, ist im
geltenden Recht wieder nur in schwachen Ansätzen vorhanden. Das Sühneverfahren bei den Amts-
gerichten liefert in der Praxis nicht die Erfolge, die es auf dem Papier verspricht und schliesst ja
auch durch seine kontradiktorische Gestaltung von vornherein die Fälle aus, in denen einer Partei
wirksamer Rechtsschutz schon durch das Gehör und die Belehrung seitens des Richters gewährt
werden kann. Der Gerichtsschreiber soll den Verkehr mit der anwaltlosen Partei vermitteln, hält
aber meistens in der Praxis mit der Ratserteilung zurück, wo es sich nicht nur um die Formen
der Prozessführung handelt, und ist jedenfalls nicht von Amts wegen dazu bestellt. Am lebendigsten
ist die unmittelbare Macht des Richters, einer bedrängten Partei ohne Fristen und Termine des kon-
tradiktorischen Prozessgangs zu helfen bei den einstweiligen Verfügungen der $$ 935, 940 Z.P.O. und
besonders in der, aus der Z.P.O. etwas herausfallenden, jedoch durchaus gerechten Vorschrift, die
dem Richter die Wahl der zweckmässigen Mittel zur Hilfe freistellt: „Das Gericht bestimmt nach
freiem Ermessen, we!che Anordnungen zur Erreichung des Zweckes erforderlich sind. Die einstweilige
Verfügung kann auch in einer Sequestration sowie darin bestehen, dass dem Gegner eine Handlung
geboten oder verboten, insbesondere die Veräusserung, Belastung oder Verpfändung eines Grund-
stücks untersagt wird‘‘ $ 938 (die Vorschrift ist gesetzestechnisch gut gefasst, insofern sie im zweiten
Satz nicht kasuistisch beschränkt, sondern nur exemplifizierend das Ermessen des Richters leitet;
sie hat dadurch überhaupt für diese Fragen der Methode der Gesetzesfassung hervorragende Be-
deutung und wird, auch als Muster für die Regelung richterlicher Gewalten im Strafverfahren, nicht
genügend gewürdigt). Dass die Verfügung, die der Richter trifft, eine einstweilige, keine der Rechts-
kraft fähige ist, versteht sich; es kommt aber für die Erweckung der Vorstellung eines starken, im
Notfall für den Verletzten, Schutzbedürftigen wirklich brauchbaren richterlichen Imperiums nicht
so wohl die Unangreifbarkeit und gesetzesgleiche Kraft einer nach vier oder fünf Jahren des Prozes-
sierens von sieben Richtern erlassenen Endentscheidung des Rechtsstreits an, als auf die Möglichkeit
sofortigen Eingreifens, selbst wenn es keinen dauernden Bestand hat.
Solange der Richter nicht an ordentlichen Gerichtstagen, sei es öffentlich, sei es in seinem
Amtszimmer, um Rechtsra t angegangen werden kann, trifft die Justizverwaltungen diedoppelte
Pflicht der Überwachung, aber auch jeder möglichen Förderung der sozialen Einrichtungen, die der
Erteilung von Rechtsrat und dadurch der Justiz selbst dienen. Sparsamkeit im Versagen von Unter-
stützungen an solche Auskunftsstellen wäre, wenn diese die Gewähr breiter öffentlicher unentgelt-
licher Zugänglichkeit und sachlicher Leitung bieten, geradezu eine Vergeudung von Volksvermögen.
Wer mit den Rechtsengelegenheiten der ärmeren und amtlichen Schreibwerks unkundigen Volks-