Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege. 337
klassenzutungehabthat, weiss, welche schädlicheund dem ganzen Geist unserer Rechtsordnung feind-
liche Rolle die Einschüchterung einer nicht vertretenen und nicht beratenen Person durch juristisch ge-
fasste, mit den gesetzlichen Folgen dieser oder jener Handlung oder Unterlassung drohende Schreiben
von Anwälten der Gegenpartei spielt. Bei der letzten Novelle zur Z.P.O. ist für die Neuregelung
des Mahnverfahrens darauf hingewiesen worden, dass im Volk die alte Fassung des $ 692 viel miss-
verstanden worden sei; weil der Zahlungs „befehl“ nämlich dem Schuldnergebot, entweder zu zahlen
oder Widerspruch zu erheben, sollen die in dieser Weise Gemahnten oft geglaubt haben, beim Unver-
mögen der Zahlung eben wenigstens dem Alternativgebot folgen und den Widerspruch erheben zu
müssen, selbst wenn sie gar nicht die Absicht oder die rechtliche Möglichkeit hatten, den Anspruch
des Gläubigers zu bestreiten. Deshalb soll ihnen nach dem neuen Recht nur noch geboten werden,
den Widerspruch zu erheben „falls sie Einwendungen gegen den Anspruch haben“. Aber während
das Gesetz sich so um eine dem einfachsten Verstand fassbare Ausdrucksweise der Befehle bemüht,
die von Rechts wegen ein Privatrechtssubjekt mit Hilfe der gerichtlichen Organe an ein anderes er-
lassen kann. ist für den aussergerichtlichen Verkehr von Anwälten, Rechtskonsulenten. Konkurs-
verwaltern. Gerichtsvollziehern usw. mit den Gegnern ihrer Klicnten die entgegengesetzte Methode
leider nicht selten in Anwendung, durchaus nicht immer aus dolosen Bewegeründen oder dem Be-
streben, in imponierender Form aufzutreten, sondern vielfach aus schlechter Routine. Hier hilft
eine Rechtsauskunftsstelle, die obne Entgelt oder gegen ganz geringe Gebühr angegangen werden
kann und das Vertrauen der Bevölkerung gen’esst, unmittelbar; dass sie, sofern sie der Rechts-
pflege dienen will, nicht gegen den Anwalt oder gegen die gerichtlichen Organe arbeiten darf, liegt
auf der Hand; ein guter. geschlossener, mit den Gerichten aufs allernächste zusammenhängender
und zusanımenarbeitender Anwaltstand ist der Justiz heute unentbehrlich und da, wo die Prozess-
ordnung die Mitwirkung des Anwalts oder andere Gesetze die Tätigkeit des Notars vorschr: iben, da
ist für den Rechtsrat von anderer Seite kein Bedürfnis und kein Raum innerhalb de: Justiz. Indessen
ist dieser Bezirk deutlich abzreyrenzt, und ausserhalb sollte umgekehrt der Gegenpartei eines vom
Anwalt oder anderen Berufsjuristen Beratenen das Gegengewicht eines öffentlichen Rechtsrats zur
Verfügung stelıen.
Nicht empfehlenswert scheint dagegen die z. Z. in England in Verbindung mit dem Prü-
judiziensystem gebräuchliche Aufstellung von Versuchsfällen (test cases) zur Entscheidung einer
für die Allgemeinheit wichtigen Rechtsfrage im Scheinprozess.
8. Die Frage der Unabhängixkeit der ordentlichen Gerichte ist, nachdem sie lanıe
Zeit geruht hatte, verschiedentlich neuerdings zu praktischer Bedeutun: gelangt. Dass die Garantien,
die das G.V.G. gibt und somit von Reichs wegen gegen die einzelnen ‚Justizverwaltungen stabiliert,
für sich allein nicht ausreichen, um die Unabhängigkeit der Richter im richtigen Sinn zu schützen,
ist bei der komplizierten Natur dessen, was man eben unter dieser Unabhängigkeit zu verstehen hat,
selbstverständlich. Drei besondere Sicherungen jener allgemeineren Bürgschaften sind, ihrer Wich-
tigkeit wegen, und weil sich bei ihnen Konflikte ergeben baben, hier anzuführen. Einmal die Rege-
lung des sog. Kompetenzkonflikts in der Weise, dass den ordentlichen Gerichten nicht nur auf dem
Papier desG.V.G., sondern in Wirklichkeit die bindende Entscheidung über ihre Jurisdiktion gegen-
über der Verwaltung gegeben und besonders die Rechtskıaft eines Urteils, das die Zulässirkeit des
Rechtswegs bejaht, gegenüber der unzulässigen Bezweiflung durch Verwaltungsinstanzen des In-
lands oder des Auslands vomStaat wie ein Stück seiner eigenen Ehre verteidigt wird. Zweitens dass
die ordentlichen Gerichte da, wo ihnen im Prozess die Wahrheitsprüfung zum Richteramt zugewiesen
ist, an die Entscheidungen anderer Behörden über Präjudizialfragen auch des öffentlichen Rechts
nicht gebunden sind — dies natürlich mit der Bedeutung, dass unter den Handlungen der anderen
Behörden die Verfügungen konstitutiven Inhalts von den Entscheidungen deklaratorischer Art zu
trennen sind und nur gegenüber den letzteren den Gerichten die Freiheit der eigenen Ermittlung
und Prüfung gewahrt wird. Schliesslich ist als Ergänzung der persönlichen Unabhängigkeitsgarantien
für den Richter darauf zu achten, dass sein Amt ihm zur ausschliesslichen Aufgabe im Staatsdienst
wird; zu vermeiden wäre also ebenso die Bestellung von Verwaltungsbeamten oder Beamten des
Unterrichtswesens zu Richtern im Nebenamt wie umgekehrt die nebenamtliche Beschäftigung der
Richter in Funktionen, die unter der gewöhnlichen Beamtendisziplin stehen müssen.
Mandbach der Politik. IT. Auflage. Band I 32