Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

338 Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Zivilrechtspflege. 
  
9. Im Ausland wird mehrfach vom Richter politische Neutralität verlangt, 
während in Deutschland die Aktivität höherer Richter im Parteileben und ihre Wahl zu den Parla- 
mentennichtsungewöhnlichesist. Dasenglische Beispiel jenes Neutralitätssystems] ‘oht zurNach 
ahmung aneifern, wenn manesnach seinen Früchten beurteilt, denn einerseits ist gerade in England 
die Mehrzahl der Richter vor ihrer Ernennung politisch. häufig im Parlament selbst, tätig gewesen, 
wodurch der Verdacht parteipolitischer Motive für die Ernennung und das Bestreben eifriger Partei- 
leute, Einfluss auf die Ernennungen zu bekommen, nie ganz zum Einschlafen kommen kann; an- 
dererseits scheitert die Durchführung des Systems im Oberhaus, da hier die höchsten Richter des 
Landes wieder an den politischen Debatten oder wenigstens an den Abstimmungen über rein poli- 
tische Fragen teilnehmen. 
In den deutschen Staaten, dieeineersteKammer besitzen, ist die Ernennung eines oder 
mehrerer Höchstrichter des Landes durch den Landesherrn zum Mitglied dieser Kammer üblich. 
Zu wünschen wäre, dass solche Mitgliedschaft überall ex officio einträte, wie es die neue Verfassung 
für Elsass-Lothringen im $ 6 I verordnet. Die Ernennung verletzt gewiss die Unabhängigkeit des 
Richters an sich noch nicht. Unterbleibt sie aber, der Regel zuwider, in einem Fall, so ist damit eine 
Kritik des Souverains und der seine Wahl bestimmenden Regierung nicht nur an der Einzelperson, 
sondern am Amt selbst geübt und das Ansehen des Standes geschädigt, da ja natürlich die Nichter- 
nennung auf keinen Fall würde bedeuten können oder sollen, dass nun der Übergangene auch sein 
Richteramt verlasse und damit dem Chef der Justizverwaltung die Möglichkeit der Ernennung eines 
politisch genehmeren Richters auf den freien Posten gewährt werde. Für das Reich ist, solange ihm 
die erste Kammer fehlt, durch eine staatsrechtlich-gesetzlich geregelte Form der Mitwirkung und 
jedenfalls des Beirats einer Gruppe von Höchstrichtern bei der Schaffung von Justizgesetzen ein 
Ersatz zu suchen. 
10. Im allgemeinen Prozessrecht steht mit der Gerichtsverfassung im nächsten Zusammen- 
hang die Sicherung der Einheitlichkeit oder wie man häufiger kurz und hyperbolisch sagt: Ei n- 
heitderRechtsprechung. Dass sie höchst wünschenswert ist, daran zweifelt niemand. 
Andererseits ist nicht zu leugnen, dass neuerdings häufig einer drängenden Prozessreform die durch 
sie drohende Gefährdung der einheitlichen Rechtsprechung so summarisch entgegengehalten worden 
ist, als sei die Einheit schlechthin das höchste Gut der guten Justiz und deshalb inkommensurabel. 
Demgegenüber ist in meinem Wiener Vortrag über das Thema (Österr. Zentralbl. f. d. jur. Praxis 
29, 1 ff) der Versuch unternommen, sie unter die übrigen Grundsätze des Prozessrechts zurückzu- 
stellen und vor allen Dingen dem Schlagwort einer angeblich vorhandenen und gefährdeten Einheit 
der Rechtsprechung im deutschen Prozess das Bild der Wirklichkeit entgegenzustellen. Sichern 
lässt sich die Einheit nur durch das Präjudiziensystem oder durch die straffe Zentralisie- 
rung der Gerichtsverfassung in einem Hochgericht. Beides ist dem geltenden deutschen Prozessrecht 
gleich fremd. DieWirkung, die wir den endgültigen Urteilen der Zivilrechte geben, ist streng auf den 
entschiedenen Fall beschränkt; das ergibt sich mit Notwendigkeit aus der Natur des Verfahrens mit 
seiner weitgehenden Freilassung der Parteidisposition. In der Praxis ist ein Gegengewicht gegen eine 
zu starke Partikularisierung der Rechtsprechung dadurch geschaffen, dass nicht nur die wichtigeren 
Entscheidungen der höheren Gerichte, und zwar neuerdings mehr und mehr, publiziert und in hand- 
lichen Sammlungen jeder Gerichtsbibliotliek einverleibt werden, sondern dass auch die Kommentare 
zur Prozcssordnung, denen vielfach fast die Autorität authentischer Gesetzesauslegung in der Praxis 
eingeräumt wird, ihrerseits auf dem genausten Studium der Judikatur beruhen, wo sie nicht gar, auf 
eigene Ansichten der Verfassers verzichtend, nur Repertorien für die Präjudizien der höchsten Ge- 
richte sind. Dieses heimliche Präjudiziensystem ist deshalb nicht unbedenklich, weil es, ähnlich 
wie die amerikanischen Repertorien und Enzyklopädien, mit Rechtspräjudizien arbeiten muss, die, 
von dem Fall losgelöst, aus dem sie ursprünglich erwachsen waren, ganz wie Sätze der lex scripta 
wirken. Soll aber das Präjudiziensystem überhaupt gegenüber dem Kodifikationssystem Vorzüge 
seiner Eigenart haben, so könnten sie nur darin bestehen, dass beim ersteren der Einzelfall in seiner 
Eigentümlichkeit stärkere Beachtung finden kann, weil der Richter vor deı Befolgung des im Prä- 
judız enthaltenen Rechtssatzes genau zu prüfen hat, ob sein jetzt zu entscheidender Fall im Tat-
	        
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