346 K. Schulz, Die Entlastung des Reichsgerichts.
Auswahl der Rechtssachen. Die bei den Amtsgerichten anhängigen bürgerlichen Prozesse enden mit
der Entscheidung der Landgerichte auf die eingewendete Berufung. Das Bedürfnis der Begrenzung
tritt gebieterisch auf bei den von den Oberlandesgerichten auf Berufung gefällten Endurteilen.
Ein grösserer Staat vermag hier nicht die Oberberufung zu gewähren, nämlich die Prüfung von
Rechts- und Tatfrage, sondern er muss sich auf ein Rechtsmittel beschränken, welches nur die
Prüfung der Rechtsfrage zulässt, die Nichtigkeitsbeschwerde oder nach der deutschen Zivilprozess-
ordnung dieRevision. Die Unterscheidung nach Faktum und Jus ist alt und schon von den römischen
Juristen gehandhabt, der Versuch einer Trennung von Tat- und Rechtsfrage in ihrer formalistischen
Durchbildung und mit ihren juristischen Folgerungen ist ein Ergebnis französischer Doktrin und
Praxis bei Kassation und Schwurgericht. Die Kassation ist bei der Gestaltung des auf die Rechts-
frage beschränkten Rechtsmittels im deutschen Zivilprozess nur bis zu einem gewissen Grade das
Vorbild gewesen. Man hat den Ausdruck , Nichtigkeitsbeschwerde‘“ vermieden, ‚weil er zu sehr
an den Kassationsrekurs des französischen Rechts erinnerte, mit diesem aber der Sache und den
Formen nach vollständig gebrochen werden sollte”. Die Revision wurde ‚als eine frei gestaltete
revisio in jure konstruiert“, sie sollte als „beschränkte Berufung‘, nicht als „erweiterte Nichtigkeits-
beschwerde‘ aufgefasst werden.
Mit dieser freieren Gestaltung war auch die freiere Handhabung durch den Gerichtshof not-
wendig gegeben. Das Auseinanderhalten von tatsächlicher Feststellung und rechtlicher Erwägung,
welches ım französischen Prozess durch die Bearbeitung des tatsächlichen Teils des Urteils seitens der
Anwälte erleichtert wird, hat sich in der deutschen Praxis und Wissenschaft nicht in dem erwarteten
Masse durchführen lassen. In dem begrifflichen Erfassen tatsächlicher Vorgänge liegt vielfach ein
Element rechtlicher Erwägung. So hat die Begrenzung der Revision unter den Zivilsenaten des
Reichsgerichts zu verschiedener Auffassung geführt, Mitglieder der Oberlandesgerichte haben
über „Eingriffe des Reichsgerichts in die Beurteilung der Tatfrage‘ lebhaft geklagt. Jedenfalls hat
die freiere Handhabung der „beschränkten Berufung‘ dazu beigetragen, dass dies Rechtsmittel auch
in Fällen eingelegt wurde, wo eine strengere Auffassung das Urteil als nur auf tatsächliche Erwägung
gegründet ansehen konnte. Die auf diesem Gesichtspunkt beruhende Beschränkung des Rechts-
mittels hat danach nicht so vollkommen gewirkt, wie erwartet wurde, und es ist nicht anzunehmen,
dass man sich jemals zu der formalistischen Handhabung entschliessen wird, bei der die volle
Wirkung der Beschränkung eintreten würde; der 1910 gemachte Versuch einer grösseren Sicher-
stellung der tatsächlichen Feststellungen der Instanzgerichte gegen Revisionsangriffe durch gesetz-
liche Vorschriften ist, abgesehen von dem neuen $ 561, Absatz 2, vom Reichstag abgelehnt worden.
Vereinzelte Stimmen haben wegen dieser Unsicherheit der Scheidung die Beschränkung auf die
Prüfung der Rechtsfrage aufheben und dem Reichsgericht auch die Beurteilung der
Tatfragen überweisen wollen. Die neue ungarische Zivilprozessordnung hat sich auf
diesen Standpunkt gestellt. Für das Deutsche Reich dürfte sich jedoch der Schritt
nicht empfehlen, nicht bloss, weil die Zahl der Revisionen stark zunehmen würde, sondern
auch, weil bei der tatsächlichen Prüfung die Vorinstanzen in einer vorteilhafteren Lage sind, als das
Reichsgericht. Es lässt sich freilich nicht verkennen, dass oberlandesgerichtliche Urteile zuweilen
gerade in tatsächlicher Hinsicht zu lebhaftem Widerspruch herausfordern; aber eine so eingreifende
Massregel würde nur bei einer völligen prinzipiellen Umgestaltung des Rechtsmittels sich recht-
fertigen lassen. Zurzeit werden nicht bloss viele Revisionen zurückgewiesen, weil die Urteile auf
tatsächlicher Erwägung beruhen und einen Rechtsirrtum nicht erkennen lassen, sondern es wird auch
in unbestreitbar so gearteten Fällen das Rechtsmittel gar nicht eingewendet. Welchen Prozentsatz
diese letzteren Fälle ausmachen, lässt sich nicht berechnen.
Unzweifelhaft ist noch eine weitere Einschränkung der Zulässigkeit des Rechtsmittels nötig.
Der dem Reichstag vorgelegte Entwurf der Zivilprozessordnung beschränkte den Zutritt zu dem
höchsten Gerichte durch das Erfordernis der Difformität der Vorentscheidungen. Der Reichstag
nahm in den Jahren 1875 und 1876 diese Beschränkung nicht an, sondern ersetzte sie durch die Ein-
führung einer Revisionssumme von 1500 Mark. Damit geschah ein tiefer Eingriff in das Wesen des
geplanten Prozesses, eine prinzipielle Abweichung von der ursprünglich beabsichtigten Begrenzung
des Arbeitsstoffes für den obersten Gerichtshof. \as vorauszusehen war und vorausgesehen wurde,