356 Ernst Beling, Strafrechtspflege.
Gesetzesrecht mit seiner Berechenbarkeit die unbedingt erforderliche Rechtssicherheit. Deshalb
wird der Staat sein Absehen darauf richten müssen, die Strafrechtspflege in der Hauptsache
gesetzlich festzulegen und das Ermessen der Justizorgane nur in solchen Punkten zu entfesseln,
wo die Möglichkeit exakter Formulierung versagt oder Werturteile im Spiele sind, die der Gesetz.
geber nur ins Blaue hinein fällen könnte a. B. Frage, i in welcher Reihenfolge Zeugen vernommen
werden sollen).
Im übrigen ist dabei auch nicht zu übersehen, dass zwischen der „gesetzlichen Regelung“
und der „Freigabe des Ermessens der Organe für den Einzelfall“ noch Zwischenglieder inmitten
liegen. Eine Regelung kann sehr wohl eine 2 „feste“ sein, ohne dass sie vom Gesetz ausginge. Damit
soll nicht auf die Regelung im Verordnungswege angespielt sein. Gesetz und Verordnung mögen
hier als eine einheitliche Gruppe zusammengefasst sein, einmal weil Verordnungen strafprozess-
rechtlichen Inhalts, abgesehen von den S heute keine erhebliche
Rolle spielen, sodann weil die Aufteilung des zu regelnden Stoffes zwischen das Gesetz im konsti-
tutionellen Sinne und die Verordnungsgewalt für die Strafrechtspflege kaum nach besonderen
Gesichtspunkten zu erfolgen haben wird. Wohl aber sei hier auf die interessante Erscheinung des
englischen Rechtslebens: "die rules der Gerichte hingewiesen.®) Die Frage wird der Erwägung wert
sein, ob nicht zahlreiche Punkte innerhalb der Strafrechtspflege zwar an sich einer „festen‘‘ Regelung
bedürfen, doch aber einer — die Änderung erschwerenden und die verschiedenen Justizstellen
zu schablonenhaft gleichmässig behandelnden — gesetzlichen Festlegung widerstreben. Ist dies
der Fall, so bieten die englischen rules einen praktischen Ausweg.
Im Folgenden sind unter A die Probleme eingestellt, die herkömmlich als Gesetzgebungs-
fragen behandelt werden; unter B folgen solche, die gewöhnlich nicht als solche der lex ferenda auf-
gefasst werden.
A. Strafprozessrechtspolitik.
I. Die Rechtsschutzstellen.
1. Ausser Diskussion steht heute, dass nur staatliche Stellen geeignet sind, über die Er-
teilung des Strafrechtsschutzes zu entscheiden; dass eine unmittelbare Beteiligung des Staats-
haupts an der Rechtsprechung (Kabinettsjustiz) schon deshalb ausgeschlossen sein muss, weil die
Rücksicht auf die Rechtssicherheit, Justizorgane bedingt, die hinsichtlich der Gesetzmässigkeit
ihres Handelns einer Verantwortlichkeit unterliegen; dass eigene staatliche Stellen für die Aus-
übung der Strafgerichtsbarkeit vorzusehen sind, die zwar auch mit sonstiger Gerichtsbarkeit, aber
nicht mit Aufgaben der Verwaltung (exkl. Justizverwaltung) betraut sein dürfen; dass diese Ge-
richte ebensosehr an das Gesetz zu binden wie von einer Befolgungspflicht gegenüber den (nicht
justizverwaltungsmässigen) Weisungen vorgesetzter Stellen unabhängig zu stellen sind; dass gültig
Recht zu sprechen nur Stellen berufen sein können, die das Gesetz vorsieht, nicht „Ausnahme-
gerichte“, deren Konstituierung ausserhalb des Gesetzes steht.
Unausgetragen ist in diesen Beziehungen nur die Frage, ob nicht die Abrügung geringfügiger
Verfehlungen bestimmten Verwaltungsbehörden (Polizei-, Zoll- und Steuerbehörden usw.) zu über-
lassen sei. Das Reichsrecht hat die gesetzgeberische Entscheidung hierüber in der Hauptsache
dem Landesrecht überlassen; daher die Erscheinung, dass z. B. polizeiliche Strafverfügungen in
Bayern und Hessen im Gegensatz zu den meisten Einzelstaaten nicht Rechtens sind. Gegen eine
Verhängung von Strafen durch Verwaltungsstellen wird meist das Argument geltend gemacht,
dass deren Blick berufsmässig zu stark auf die öffentlichen Interessen gerichtet sei, und das Indi-
viduum deshalb möglicherweise Not leide. Aber auf der anderen Seite ist: zu bedenken, dass die
verwaltungsmässige Erledigung regelmässig kürzer, wohlfeiler und ohne den oft für das Individuum
lästigen Apparat der Justiz erfolgt, dass die Verhängung einer Strafe durch eine Verwaltungs-
behörde im Publikum minder tragisch genommen wird als gerichtliche Bestrafung, endlich dass
bei einem Teil der Fälle (so bei Gefällsstrafsachen) der Richter nicht derart Spezialist ist, wie die
%) Vgl. Gerland, Die Einwirkung des Richters auf die Rechisentwickelung in England, S. 8 ff.;
Dersolbo, Englische Gerichisverfassung S. 232 ff., 287 ff. und sonst,